alle unruhigen Tage und schlaflosen Nächte, wür- den nur aus der Vermuthung entstehen, daß sie mich beleidiget hätte. So oft ich abwesend wäre, würde sie eine ewige Abwesenheit besorgen: wie an- genehm würde ihr ein jeder entzückender Willkom- men, und wie angenehm würde mir ihre Belohnung dafür seyn? Solche Veränderungen und Leiden- schaften machen die Liebe empfindlich: sonst schläft sie ein. Das glückliche Paar braucht bey den lan- gen Abenden nicht an zwey entfernten Caminen zu schlummern, und einander mit dem trägen Kopfe zu zunicken: sondern einer ist dem andern neu, und man hat etwas, davon man sich unterreden kann.
Du weißt, wie ich mich in meinem Gedichte an meine Stella hierüber ausgedrücket habe. Jch will diese Zeilen so liegen lassen, daß sie ihr in die Hände kommen, so bald wir in dem Hause der Wit- wen sind: es wäre denn, daß wir uns entschlössen, vorher die Kirche zu besuchen. Sie wird daraus sehen, was ich vor Gedancken von dem Ehestande habe. Wenn sie nicht in dem höchsten Grad auf mein Gedichte zürnet, so habe ich den Grund geleget, auf den ich weiter bauen kann.
Manches Mädchen ist überwunden, an welches niemand sich gewaget hätte, wenn es zu rechter Zeit empfindlich geworden wäre, da zuerst etwas vor- gebracht ward, das Augen oder Ohren beleidigte. Durch ein böses Buch, durch einen lustigen Vers, durch ein Bild habe ich manches Mädchen versucht; wenn es nicht böse, sondern nur roth ward, wenn es gar lächelte, so habe ich es mit dem alten Mul-
ciber
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alle unruhigen Tage und ſchlafloſen Naͤchte, wuͤr- den nur aus der Vermuthung entſtehen, daß ſie mich beleidiget haͤtte. So oft ich abweſend waͤre, wuͤrde ſie eine ewige Abweſenheit beſorgen: wie an- genehm wuͤrde ihr ein jeder entzuͤckender Willkom- men, und wie angenehm wuͤrde mir ihre Belohnung dafuͤr ſeyn? Solche Veraͤnderungen und Leiden- ſchaften machen die Liebe empfindlich: ſonſt ſchlaͤft ſie ein. Das gluͤckliche Paar braucht bey den lan- gen Abenden nicht an zwey entfernten Caminen zu ſchlummern, und einander mit dem traͤgen Kopfe zu zunicken: ſondern einer iſt dem andern neu, und man hat etwas, davon man ſich unterreden kann.
Du weißt, wie ich mich in meinem Gedichte an meine Stella hieruͤber ausgedruͤcket habe. Jch will dieſe Zeilen ſo liegen laſſen, daß ſie ihr in die Haͤnde kommen, ſo bald wir in dem Hauſe der Wit- wen ſind: es waͤre denn, daß wir uns entſchloͤſſen, vorher die Kirche zu beſuchen. Sie wird daraus ſehen, was ich vor Gedancken von dem Eheſtande habe. Wenn ſie nicht in dem hoͤchſten Grad auf mein Gedichte zuͤrnet, ſo habe ich den Grund geleget, auf den ich weiter bauen kann.
Manches Maͤdchen iſt uͤberwunden, an welches niemand ſich gewaget haͤtte, wenn es zu rechter Zeit empfindlich geworden waͤre, da zuerſt etwas vor- gebracht ward, das Augen oder Ohren beleidigte. Durch ein boͤſes Buch, durch einen luſtigen Vers, durch ein Bild habe ich manches Maͤdchen verſucht; wenn es nicht boͤſe, ſondern nur roth ward, wenn es gar laͤchelte, ſo habe ich es mit dem alten Mul-
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alle unruhigen Tage und ſchlafloſen Naͤchte, wuͤr-
den nur aus der Vermuthung entſtehen, daß ſie
mich beleidiget haͤtte. So oft ich abweſend waͤre,
wuͤrde ſie eine ewige Abweſenheit beſorgen: wie an-
genehm wuͤrde ihr ein jeder entzuͤckender Willkom-
men, und wie angenehm wuͤrde mir ihre Belohnung
dafuͤr ſeyn? Solche Veraͤnderungen und Leiden-
ſchaften machen die Liebe empfindlich: ſonſt ſchlaͤft
ſie ein. Das gluͤckliche Paar braucht bey den lan-
gen Abenden nicht an zwey entfernten Caminen zu
ſchlummern, und einander mit dem traͤgen Kopfe
zu zunicken: ſondern einer iſt dem andern neu, und
man hat etwas, davon man ſich unterreden kann.
Du weißt, wie ich mich in meinem Gedichte an
meine Stella hieruͤber ausgedruͤcket habe. Jch
will dieſe Zeilen ſo liegen laſſen, daß ſie ihr in die
Haͤnde kommen, ſo bald wir in dem Hauſe der Wit-
wen ſind: es waͤre denn, daß wir uns entſchloͤſſen,
vorher die Kirche zu beſuchen. Sie wird daraus
ſehen, was ich vor Gedancken von dem Eheſtande
habe. Wenn ſie nicht in dem hoͤchſten Grad auf
mein Gedichte zuͤrnet, ſo habe ich den Grund geleget,
auf den ich weiter bauen kann.
Manches Maͤdchen iſt uͤberwunden, an welches
niemand ſich gewaget haͤtte, wenn es zu rechter Zeit
empfindlich geworden waͤre, da zuerſt etwas vor-
gebracht ward, das Augen oder Ohren beleidigte.
Durch ein boͤſes Buch, durch einen luſtigen Vers,
durch ein Bild habe ich manches Maͤdchen verſucht;
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 3. Göttingen, 1749, S. 435. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa03_1749/449>, abgerufen am 24.11.2024.
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