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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 3. Göttingen, 1749.

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Sie ist noch ungemein schwach; allein aus Furcht
vor ihren dummen Bruder sehnet sie sich sehr nach
London. Sie würde schon dort seyn, wenn nicht
dieser Umstand dazwischen gekommen wäre, und ich
sie nicht zu dem Gegentheil überredet hätte. Hät-
test du das jemahls glauben sollen? Wenn es nicht
schlimmer mit ihr wird, so müssen wir auf den Mit-
tewochen früh ausreisen.

Nun muß ich noch ein paar Worte auf deine
letzte erbauliche Sonnabends-Predigt antworten.

Du fürchtest dich, daß die Fräulein jetzo in der
That in Gefahr sey, und du meinst, es wäre ein
Wunderwerck, wenn sie ihrem Versucher widerste-
hen könnte. Du sagest, wir kennten das Frauen-
zimmer so gut, daß, wenn du an meiner Stelle wä-
rest, du dich fürchten würdest, ein allzu glücklicher
Versucher zu seyn. An einem andern Orte meldest
du mir: du wolltest mich nicht zum Heyrathen über-
reden, weil du ein Freund des Ehestandes wärest.

Was für ein Vertheidiger des Ehestandes bist
du? Du bist immer unglücklich, wenn du Schlüsse
machen willst. Saget der übrige Jnhalt deines
Briefes so viel Wahrheiten, die den Ehestand an-
rathen können, als sie in diesen wenigen Zeilen mis-
rathen?

Du giebst dir viel Mühe mich zu überzeugen,
daß die Umstände der Fräulein die Umstände für sie
sehr gefährlich machen. Du wirst mir zugestehen,
daß nicht ich, sondern ihre unversöhnlichen Freunde
an diesen Umständen schuld sind. Allein ich frage dich:
kann die wahre Tugend anders als in Unglück ge-

prüfet


Sie iſt noch ungemein ſchwach; allein aus Furcht
vor ihren dummen Bruder ſehnet ſie ſich ſehr nach
London. Sie wuͤrde ſchon dort ſeyn, wenn nicht
dieſer Umſtand dazwiſchen gekommen waͤre, und ich
ſie nicht zu dem Gegentheil uͤberredet haͤtte. Haͤt-
teſt du das jemahls glauben ſollen? Wenn es nicht
ſchlimmer mit ihr wird, ſo muͤſſen wir auf den Mit-
tewochen fruͤh ausreiſen.

Nun muß ich noch ein paar Worte auf deine
letzte erbauliche Sonnabends-Predigt antworten.

Du fuͤrchteſt dich, daß die Fraͤulein jetzo in der
That in Gefahr ſey, und du meinſt, es waͤre ein
Wunderwerck, wenn ſie ihrem Verſucher widerſte-
hen koͤnnte. Du ſageſt, wir kennten das Frauen-
zimmer ſo gut, daß, wenn du an meiner Stelle waͤ-
reſt, du dich fuͤrchten wuͤrdeſt, ein allzu gluͤcklicher
Verſucher zu ſeyn. An einem andern Orte meldeſt
du mir: du wollteſt mich nicht zum Heyrathen uͤber-
reden, weil du ein Freund des Eheſtandes waͤreſt.

Was fuͤr ein Vertheidiger des Eheſtandes biſt
du? Du biſt immer ungluͤcklich, wenn du Schluͤſſe
machen willſt. Saget der uͤbrige Jnhalt deines
Briefes ſo viel Wahrheiten, die den Eheſtand an-
rathen koͤnnen, als ſie in dieſen wenigen Zeilen mis-
rathen?

Du giebſt dir viel Muͤhe mich zu uͤberzeugen,
daß die Umſtaͤnde der Fraͤulein die Umſtaͤnde fuͤr ſie
ſehr gefaͤhrlich machen. Du wirſt mir zugeſtehen,
daß nicht ich, ſondern ihre unverſoͤhnlichen Freunde
an dieſen Umſtaͤnden ſchuld ſind. Allein ich frage dich:
kann die wahre Tugend anders als in Ungluͤck ge-

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[429/0443] Sie iſt noch ungemein ſchwach; allein aus Furcht vor ihren dummen Bruder ſehnet ſie ſich ſehr nach London. Sie wuͤrde ſchon dort ſeyn, wenn nicht dieſer Umſtand dazwiſchen gekommen waͤre, und ich ſie nicht zu dem Gegentheil uͤberredet haͤtte. Haͤt- teſt du das jemahls glauben ſollen? Wenn es nicht ſchlimmer mit ihr wird, ſo muͤſſen wir auf den Mit- tewochen fruͤh ausreiſen. Nun muß ich noch ein paar Worte auf deine letzte erbauliche Sonnabends-Predigt antworten. Du fuͤrchteſt dich, daß die Fraͤulein jetzo in der That in Gefahr ſey, und du meinſt, es waͤre ein Wunderwerck, wenn ſie ihrem Verſucher widerſte- hen koͤnnte. Du ſageſt, wir kennten das Frauen- zimmer ſo gut, daß, wenn du an meiner Stelle waͤ- reſt, du dich fuͤrchten wuͤrdeſt, ein allzu gluͤcklicher Verſucher zu ſeyn. An einem andern Orte meldeſt du mir: du wollteſt mich nicht zum Heyrathen uͤber- reden, weil du ein Freund des Eheſtandes waͤreſt. Was fuͤr ein Vertheidiger des Eheſtandes biſt du? Du biſt immer ungluͤcklich, wenn du Schluͤſſe machen willſt. Saget der uͤbrige Jnhalt deines Briefes ſo viel Wahrheiten, die den Eheſtand an- rathen koͤnnen, als ſie in dieſen wenigen Zeilen mis- rathen? Du giebſt dir viel Muͤhe mich zu uͤberzeugen, daß die Umſtaͤnde der Fraͤulein die Umſtaͤnde fuͤr ſie ſehr gefaͤhrlich machen. Du wirſt mir zugeſtehen, daß nicht ich, ſondern ihre unverſoͤhnlichen Freunde an dieſen Umſtaͤnden ſchuld ſind. Allein ich frage dich: kann die wahre Tugend anders als in Ungluͤck ge- pruͤfet

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Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 3. Göttingen, 1749, S. 429. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa03_1749/443>, abgerufen am 28.11.2024.