würde die Welt wo nicht tugendhaft werden, den- noch sich schämen und bessern. Ehe zwey Geschlech- ter untergegangen wären, würde die Schaam zur Tugend werden. Machen Sie die Anwendung hievon; ich unterstehe mich nicht es zu thun; denn ich fürchte mich eben so sehr vor Jhnen als ich Sie liebe.
Jch will Jhnen an einem andern Exempel zei- gen, daß man nur recht edeln und erhabenen Ge- müthern einen blinden Gehorsam leisten dürfe. Sie wissen was ich oben gesagt habe, daß Wahr- heit Wahrheit bleibe.
Man hat bisweilen Ungelegenheit davon, wenn man sich mit den bescheidenen und allzu bedächtigen Leuten einläßt. Sie sagen, Herr Hickmann sey ein bescheidener Mensch. Er gab mir Jhren Brief mit einem krummen Rücken, und mit einer in sich selbst vergnügten Gebeerde in die Hand. (Wir wollen das hernach ein wenig überlegen, was Sie von dem guten Manne schreiben.) Er war noch nicht gantz von seiner vornehmen Gebeerde be- freyet, als meine Mutter herein trat, und sahe, daß ich einen Brief las.
Manche Leute suchen immer Gelegenheit zu zürnen, wenn sie mercken, daß man sich vor ihrem Zorn fürchtet. Was nun, Herr Hickmann? was nun Aennichen? (sagte sie, als ich den Brief bey- steckte.) Du hast den Augenblick wieder einen Brief bekommen.
Jhr bescheidener Hickmann schrie etlichemal, und hielt in der Mitte des Wortes inne: Gnä - -
gnä
wuͤrde die Welt wo nicht tugendhaft werden, den- noch ſich ſchaͤmen und beſſern. Ehe zwey Geſchlech- ter untergegangen waͤren, wuͤrde die Schaam zur Tugend werden. Machen Sie die Anwendung hievon; ich unterſtehe mich nicht es zu thun; denn ich fuͤrchte mich eben ſo ſehr vor Jhnen als ich Sie liebe.
Jch will Jhnen an einem andern Exempel zei- gen, daß man nur recht edeln und erhabenen Ge- muͤthern einen blinden Gehorſam leiſten duͤrfe. Sie wiſſen was ich oben geſagt habe, daß Wahr- heit Wahrheit bleibe.
Man hat bisweilen Ungelegenheit davon, wenn man ſich mit den beſcheidenen und allzu bedaͤchtigen Leuten einlaͤßt. Sie ſagen, Herr Hickmann ſey ein beſcheidener Menſch. Er gab mir Jhren Brief mit einem krummen Ruͤcken, und mit einer in ſich ſelbſt vergnuͤgten Gebeerde in die Hand. (Wir wollen das hernach ein wenig uͤberlegen, was Sie von dem guten Manne ſchreiben.) Er war noch nicht gantz von ſeiner vornehmen Gebeerde be- freyet, als meine Mutter herein trat, und ſahe, daß ich einen Brief las.
Manche Leute ſuchen immer Gelegenheit zu zuͤrnen, wenn ſie mercken, daß man ſich vor ihrem Zorn fuͤrchtet. Was nun, Herr Hickmann? was nun Aennichen? (ſagte ſie, als ich den Brief bey- ſteckte.) Du haſt den Augenblick wieder einen Brief bekommen.
Jhr beſcheidener Hickmann ſchrie etlichemal, und hielt in der Mitte des Wortes inne: Gnaͤ ‒ ‒
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wuͤrde die Welt wo nicht tugendhaft werden, den-
noch ſich ſchaͤmen und beſſern. Ehe zwey Geſchlech-
ter untergegangen waͤren, wuͤrde die Schaam zur
Tugend werden. Machen Sie die Anwendung
hievon; ich unterſtehe mich nicht es zu thun; denn
ich fuͤrchte mich eben ſo ſehr vor Jhnen als ich Sie
liebe.
Jch will Jhnen an einem andern Exempel zei-
gen, daß man nur recht edeln und erhabenen Ge-
muͤthern einen blinden Gehorſam leiſten duͤrfe.
Sie wiſſen was ich oben geſagt habe, daß Wahr-
heit Wahrheit bleibe.
Man hat bisweilen Ungelegenheit davon, wenn
man ſich mit den beſcheidenen und allzu bedaͤchtigen
Leuten einlaͤßt. Sie ſagen, Herr Hickmann ſey
ein beſcheidener Menſch. Er gab mir Jhren
Brief mit einem krummen Ruͤcken, und mit einer
in ſich ſelbſt vergnuͤgten Gebeerde in die Hand.
(Wir wollen das hernach ein wenig uͤberlegen, was
Sie von dem guten Manne ſchreiben.) Er war
noch nicht gantz von ſeiner vornehmen Gebeerde be-
freyet, als meine Mutter herein trat, und ſahe, daß
ich einen Brief las.
Manche Leute ſuchen immer Gelegenheit zu
zuͤrnen, wenn ſie mercken, daß man ſich vor ihrem
Zorn fuͤrchtet. Was nun, Herr Hickmann? was
nun Aennichen? (ſagte ſie, als ich den Brief bey-
ſteckte.) Du haſt den Augenblick wieder einen Brief
bekommen.
Jhr beſcheidener Hickmann ſchrie etlichemal,
und hielt in der Mitte des Wortes inne: Gnaͤ ‒ ‒
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 3. Göttingen, 1749, S. 334. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa03_1749/348>, abgerufen am 22.12.2024.
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