dreisten und verwegenen Mann, dem es einige mahl vorhin nicht Wort gehalten hatte? Mußte meine Schöne nicht dencken, daß dieser Mann kä- me, die Früchte seiner Arbeit einzuernten, und sie zu entführen? Wir sehen, daß er sie würcklich ent- führet, und sie in seine Gewalt bekommt? kön- nen nicht mehr Lovelacen, nicht mehr dreiste und unermüdete Wagehälse in der Welt seyn; wenn sie gleich nicht eben denselben Weg nehmen zu ihrem Endzweck zu gelangen?
Hat eine Clarissa fehlen können? Verurtheilet sie sich selbst? Hat sie einen so wichtigen Fehltritt gethan? Kann sie nicht künftig fehlen? Kann sie nicht in der grössesten Sache fehlen, auf die alle ihre übrigen Fehltritte zielen?
Sage du nicht, daß die Tugend nach dem Urtheil des Himmels eben so wohl ein Schmuck des männ- lichen als des schönen Geschlechtes sey. (Durch Tugend verstehe ich jetzt die Keuschheit, und eine Unüberwindlichkeit gegen alle Versuchungen. Von meiner Clarissa ist jetzt die Frage nicht.) Frage mich nicht, ob die Manns-Person Recht hat ein unschuldiges, ein über allen Verdacht reines Frauen- zimmer zu fodern, wenn sie selbst unordentlich ge- lebet hat? Nichts von diesen Dingen. Denn die Frau thut durch ihren Fehltritt dem Manne ein viel grösseres Unrecht, als der Mann ihr thun kann: ein Unrecht, das nicht blos den Mann, sondern die gantze Familie betrifft. Sie raubet sein Eigenthum, und giebt es eines andern Mannes Kindern, da seine eigenen Kinder entweder gantz
aus-
dreiſten und verwegenen Mann, dem es einige mahl vorhin nicht Wort gehalten hatte? Mußte meine Schoͤne nicht dencken, daß dieſer Mann kaͤ- me, die Fruͤchte ſeiner Arbeit einzuernten, und ſie zu entfuͤhren? Wir ſehen, daß er ſie wuͤrcklich ent- fuͤhret, und ſie in ſeine Gewalt bekommt? koͤn- nen nicht mehr Lovelacen, nicht mehr dreiſte und unermuͤdete Wagehaͤlſe in der Welt ſeyn; wenn ſie gleich nicht eben denſelben Weg nehmen zu ihrem Endzweck zu gelangen?
Hat eine Clariſſa fehlen koͤnnen? Verurtheilet ſie ſich ſelbſt? Hat ſie einen ſo wichtigen Fehltritt gethan? Kann ſie nicht kuͤnftig fehlen? Kann ſie nicht in der groͤſſeſten Sache fehlen, auf die alle ihre uͤbrigen Fehltritte zielen?
Sage du nicht, daß die Tugend nach dem Urtheil des Himmels eben ſo wohl ein Schmuck des maͤnn- lichen als des ſchoͤnen Geſchlechtes ſey. (Durch Tugend verſtehe ich jetzt die Keuſchheit, und eine Unuͤberwindlichkeit gegen alle Verſuchungen. Von meiner Clariſſa iſt jetzt die Frage nicht.) Frage mich nicht, ob die Manns-Perſon Recht hat ein unſchuldiges, ein uͤber allen Verdacht reines Frauen- zimmer zu fodern, wenn ſie ſelbſt unordentlich ge- lebet hat? Nichts von dieſen Dingen. Denn die Frau thut durch ihren Fehltritt dem Manne ein viel groͤſſeres Unrecht, als der Mann ihr thun kann: ein Unrecht, das nicht blos den Mann, ſondern die gantze Familie betrifft. Sie raubet ſein Eigenthum, und giebt es eines andern Mannes Kindern, da ſeine eigenen Kinder entweder gantz
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dreiſten und verwegenen Mann, dem es einige
mahl vorhin nicht Wort gehalten hatte? Mußte
meine Schoͤne nicht dencken, daß dieſer Mann kaͤ-
me, die Fruͤchte ſeiner Arbeit einzuernten, und ſie
zu entfuͤhren? Wir ſehen, daß er ſie wuͤrcklich ent-
fuͤhret, und ſie in ſeine Gewalt bekommt? koͤn-
nen nicht mehr Lovelacen, nicht mehr dreiſte und
unermuͤdete Wagehaͤlſe in der Welt ſeyn; wenn ſie
gleich nicht eben denſelben Weg nehmen zu ihrem
Endzweck zu gelangen?
Hat eine Clariſſa fehlen koͤnnen? Verurtheilet
ſie ſich ſelbſt? Hat ſie einen ſo wichtigen Fehltritt
gethan? Kann ſie nicht kuͤnftig fehlen? Kann ſie
nicht in der groͤſſeſten Sache fehlen, auf die alle
ihre uͤbrigen Fehltritte zielen?
Sage du nicht, daß die Tugend nach dem Urtheil
des Himmels eben ſo wohl ein Schmuck des maͤnn-
lichen als des ſchoͤnen Geſchlechtes ſey. (Durch
Tugend verſtehe ich jetzt die Keuſchheit, und eine
Unuͤberwindlichkeit gegen alle Verſuchungen. Von
meiner Clariſſa iſt jetzt die Frage nicht.) Frage
mich nicht, ob die Manns-Perſon Recht hat ein
unſchuldiges, ein uͤber allen Verdacht reines Frauen-
zimmer zu fodern, wenn ſie ſelbſt unordentlich ge-
lebet hat? Nichts von dieſen Dingen. Denn die
Frau thut durch ihren Fehltritt dem Manne ein
viel groͤſſeres Unrecht, als der Mann ihr thun
kann: ein Unrecht, das nicht blos den Mann,
ſondern die gantze Familie betrifft. Sie raubet ſein
Eigenthum, und giebt es eines andern Mannes
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 3. Göttingen, 1749, S. 173. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa03_1749/187>, abgerufen am 27.11.2024.
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