rer Liebe nicht. Allein Sie können doch das mir angethane Unrecht nicht so lebhafft fühlen, als ich selbst, und deswegen sind Sie geschickter als ich mir einen Rath zu geben.
Jch will es auf Jhr Urthel ankommen lassen. Habe ich genug Geduld geübt, und genug gelit- ten, oder nicht? Und was kan ich thun, wenn die Meinigen fortfahren, wie sie angefangen haben, wenn der Mann, der mir so sehr eckelhaft ist, sich nicht will abweisen lassen? Soll ich nach London flüchten, und mich sowohl vor Herrn Lovelace als vor allen meinen Verwandten zu verbergen suchen, bis mein Vetter Morden ankommt? Oder soll ich mich zu Schiffe setzen, um ihn zu Leghorn anzutreffen? Wie gefähr- lich ist dieses in Absicht auf mein Geschlecht und Jugend? Vielleicht ist mein Vetter schon un- ter Weges nach England, wenn ich ihn dort auf- suche. Was kan ich also thun? Sagen Sie es mir, allerliebste Fräulein Howe, denn ich kan mir selbst nicht trauen.
Des Abends um 11. Uhr.
Jch habe versucht, mir die Gedancken durch die Musik zu vertreiben, nachdem ich Thür und Fenster zugemacht habe, damit mich niemand unten im Hause hören möchte. Jch ward hie- bey den Vogel der Minerva gewahr, und er erinnerte mich in dem Liede, welches an die Weis- heit gerichtet ist; das gewiß unserm Geschlecht
zur
der Clariſſa.
rer Liebe nicht. Allein Sie koͤnnen doch das mir angethane Unrecht nicht ſo lebhafft fuͤhlen, als ich ſelbſt, und deswegen ſind Sie geſchickter als ich mir einen Rath zu geben.
Jch will es auf Jhr Urthel ankommen laſſen. Habe ich genug Geduld geuͤbt, und genug gelit- ten, oder nicht? Und was kan ich thun, wenn die Meinigen fortfahren, wie ſie angefangen haben, wenn der Mann, der mir ſo ſehr eckelhaft iſt, ſich nicht will abweiſen laſſen? Soll ich nach London fluͤchten, und mich ſowohl vor Herrn Lovelace als vor allen meinen Verwandten zu verbergen ſuchen, bis mein Vetter Morden ankommt? Oder ſoll ich mich zu Schiffe ſetzen, um ihn zu Leghorn anzutreffen? Wie gefaͤhr- lich iſt dieſes in Abſicht auf mein Geſchlecht und Jugend? Vielleicht iſt mein Vetter ſchon un- ter Weges nach England, wenn ich ihn dort auf- ſuche. Was kan ich alſo thun? Sagen Sie es mir, allerliebſte Fraͤulein Howe, denn ich kan mir ſelbſt nicht trauen.
Des Abends um 11. Uhr.
Jch habe verſucht, mir die Gedancken durch die Muſik zu vertreiben, nachdem ich Thuͤr und Fenſter zugemacht habe, damit mich niemand unten im Hauſe hoͤren moͤchte. Jch ward hie- bey den Vogel der Minerva gewahr, und er erinnerte mich in dem Liede, welches an die Weis- heit gerichtet iſt; das gewiß unſerm Geſchlecht
zur
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0085"n="79"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b"><hirendition="#g">der Clariſſa</hi>.</hi></fw><lb/>
rer Liebe nicht. Allein Sie koͤnnen doch das mir<lb/>
angethane Unrecht nicht ſo lebhafft fuͤhlen, als<lb/>
ich ſelbſt, und deswegen ſind Sie geſchickter als<lb/>
ich mir einen Rath zu geben.</p><lb/><p>Jch will es auf Jhr Urthel ankommen laſſen.<lb/>
Habe ich genug Geduld geuͤbt, und genug gelit-<lb/>
ten, oder nicht? Und was kan ich thun, wenn die<lb/>
Meinigen fortfahren, wie ſie angefangen haben,<lb/>
wenn der Mann, der mir ſo ſehr eckelhaft iſt,<lb/>ſich nicht will abweiſen laſſen? Soll ich nach<lb/><hirendition="#fr">London</hi> fluͤchten, und mich ſowohl vor Herrn<lb/><hirendition="#fr">Lovelace</hi> als vor allen meinen Verwandten zu<lb/>
verbergen ſuchen, bis mein Vetter <hirendition="#fr">Morden</hi><lb/>
ankommt? Oder ſoll ich mich zu Schiffe ſetzen,<lb/>
um ihn zu <hirendition="#fr">Leghorn</hi> anzutreffen? Wie gefaͤhr-<lb/>
lich iſt dieſes in Abſicht auf mein Geſchlecht und<lb/>
Jugend? Vielleicht iſt mein Vetter ſchon un-<lb/>
ter Weges nach England, wenn ich ihn dort auf-<lb/>ſuche. Was kan ich alſo thun? Sagen Sie<lb/>
es mir, allerliebſte Fraͤulein <hirendition="#fr">Howe,</hi> denn ich<lb/>
kan mir ſelbſt nicht trauen.</p><lb/><p><hirendition="#et">Des Abends um 11. Uhr.</hi></p><lb/><p>Jch habe verſucht, mir die Gedancken durch<lb/>
die Muſik zu vertreiben, nachdem ich Thuͤr und<lb/>
Fenſter zugemacht habe, damit mich niemand<lb/>
unten im Hauſe hoͤren moͤchte. Jch ward hie-<lb/>
bey den Vogel der Minerva gewahr, und er<lb/>
erinnerte mich in dem Liede, welches an die Weis-<lb/>
heit gerichtet iſt; das gewiß unſerm Geſchlecht<lb/><fwplace="bottom"type="catch">zur</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[79/0085]
der Clariſſa.
rer Liebe nicht. Allein Sie koͤnnen doch das mir
angethane Unrecht nicht ſo lebhafft fuͤhlen, als
ich ſelbſt, und deswegen ſind Sie geſchickter als
ich mir einen Rath zu geben.
Jch will es auf Jhr Urthel ankommen laſſen.
Habe ich genug Geduld geuͤbt, und genug gelit-
ten, oder nicht? Und was kan ich thun, wenn die
Meinigen fortfahren, wie ſie angefangen haben,
wenn der Mann, der mir ſo ſehr eckelhaft iſt,
ſich nicht will abweiſen laſſen? Soll ich nach
London fluͤchten, und mich ſowohl vor Herrn
Lovelace als vor allen meinen Verwandten zu
verbergen ſuchen, bis mein Vetter Morden
ankommt? Oder ſoll ich mich zu Schiffe ſetzen,
um ihn zu Leghorn anzutreffen? Wie gefaͤhr-
lich iſt dieſes in Abſicht auf mein Geſchlecht und
Jugend? Vielleicht iſt mein Vetter ſchon un-
ter Weges nach England, wenn ich ihn dort auf-
ſuche. Was kan ich alſo thun? Sagen Sie
es mir, allerliebſte Fraͤulein Howe, denn ich
kan mir ſelbſt nicht trauen.
Des Abends um 11. Uhr.
Jch habe verſucht, mir die Gedancken durch
die Muſik zu vertreiben, nachdem ich Thuͤr und
Fenſter zugemacht habe, damit mich niemand
unten im Hauſe hoͤren moͤchte. Jch ward hie-
bey den Vogel der Minerva gewahr, und er
erinnerte mich in dem Liede, welches an die Weis-
heit gerichtet iſt; das gewiß unſerm Geſchlecht
zur
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 2. Göttingen, 1748, S. 79. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa02_1748/85>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.