Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 2. Göttingen, 1748.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Geschichte
solchen Aufführung gegen mich bewust wäre, die
mich natürlicher Weise treiben müßte, das zu
thun, weswegen man mich in Verdacht hätte.
Es wäre ein grosses Unglück für mich, daß mein
Bruder so grosse Lust hätte, seinen Verstand an
mir zu zeigen: er würde mehr Lob verdienen,
wenn er Proben seines guten Hertzens als seines
schlauen Kopfes an mir machte. Jch wünschte
indessen, daß er sich selbst so gut kennen möchte,
als ich ihn zu kennen glaubte, so würde er viel-
leicht weniger von seinen Gemüths-Gaben ein-
genommen seyn, die in anderer Augen viel ge-
ringer scheinen würden, wenn er nicht so viel
Vermögen hätte mir unangenehme Dienste zu
erweisen.

Jch war voller Unwillen, und konnte es nicht
unterlassen, diese Anmerckung zu machen, die der
genugsam verdienete, den der andere durch seinen
eigenen Spion hinter das Licht führt. Jndessen
habe ich so wenig Wohlgefallen an diesem nie-
drigen Streiche, daß gewiß die Stückchens des
Buben des Joseph Lehmanns an das Licht
kommen solten, wenn mir nur erträglich begeg-
net würde.

Sie antwortete: es thäte ihr leid, daß ich ei-
ne so schlechte Meinung von meinem Bruder
hätte. Er wäre ein Cavallier von schönem Ver-
stande und grosser Gelehrsamkeit.

Ge-

Die Geſchichte
ſolchen Auffuͤhrung gegen mich bewuſt waͤre, die
mich natuͤrlicher Weiſe treiben muͤßte, das zu
thun, weswegen man mich in Verdacht haͤtte.
Es waͤre ein groſſes Ungluͤck fuͤr mich, daß mein
Bruder ſo groſſe Luſt haͤtte, ſeinen Verſtand an
mir zu zeigen: er wuͤrde mehr Lob verdienen,
wenn er Proben ſeines guten Hertzens als ſeines
ſchlauen Kopfes an mir machte. Jch wuͤnſchte
indeſſen, daß er ſich ſelbſt ſo gut kennen moͤchte,
als ich ihn zu kennen glaubte, ſo wuͤrde er viel-
leicht weniger von ſeinen Gemuͤths-Gaben ein-
genommen ſeyn, die in anderer Augen viel ge-
ringer ſcheinen wuͤrden, wenn er nicht ſo viel
Vermoͤgen haͤtte mir unangenehme Dienſte zu
erweiſen.

Jch war voller Unwillen, und konnte es nicht
unterlaſſen, dieſe Anmerckung zu machen, die der
genugſam verdienete, den der andere durch ſeinen
eigenen Spion hinter das Licht fuͤhrt. Jndeſſen
habe ich ſo wenig Wohlgefallen an dieſem nie-
drigen Streiche, daß gewiß die Stuͤckchens des
Buben des Joſeph Lehmanns an das Licht
kommen ſolten, wenn mir nur ertraͤglich begeg-
net wuͤrde.

Sie antwortete: es thaͤte ihr leid, daß ich ei-
ne ſo ſchlechte Meinung von meinem Bruder
haͤtte. Er waͤre ein Cavallier von ſchoͤnem Ver-
ſtande und groſſer Gelehrſamkeit.

Ge-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0518" n="512"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Die Ge&#x017F;chichte</hi></hi></fw><lb/>
&#x017F;olchen Auffu&#x0364;hrung gegen mich bewu&#x017F;t wa&#x0364;re, die<lb/>
mich natu&#x0364;rlicher Wei&#x017F;e treiben mu&#x0364;ßte, das zu<lb/>
thun, weswegen man mich in Verdacht ha&#x0364;tte.<lb/>
Es wa&#x0364;re ein gro&#x017F;&#x017F;es Unglu&#x0364;ck fu&#x0364;r mich, daß mein<lb/>
Bruder &#x017F;o gro&#x017F;&#x017F;e Lu&#x017F;t ha&#x0364;tte, &#x017F;einen Ver&#x017F;tand an<lb/>
mir zu zeigen: er wu&#x0364;rde mehr Lob verdienen,<lb/>
wenn er Proben &#x017F;eines guten Hertzens als &#x017F;eines<lb/>
&#x017F;chlauen Kopfes an mir machte. Jch wu&#x0364;n&#x017F;chte<lb/>
inde&#x017F;&#x017F;en, daß er &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t &#x017F;o gut kennen mo&#x0364;chte,<lb/>
als ich ihn zu kennen glaubte, &#x017F;o wu&#x0364;rde er viel-<lb/>
leicht weniger von &#x017F;einen Gemu&#x0364;ths-Gaben ein-<lb/>
genommen &#x017F;eyn, die in anderer Augen viel ge-<lb/>
ringer &#x017F;cheinen wu&#x0364;rden, wenn er nicht &#x017F;o viel<lb/>
Vermo&#x0364;gen ha&#x0364;tte mir unangenehme Dien&#x017F;te zu<lb/>
erwei&#x017F;en.</p><lb/>
          <p>Jch war voller Unwillen, und konnte es nicht<lb/>
unterla&#x017F;&#x017F;en, die&#x017F;e Anmerckung zu machen, die der<lb/>
genug&#x017F;am verdienete, den der andere durch &#x017F;einen<lb/>
eigenen Spion hinter das Licht fu&#x0364;hrt. Jnde&#x017F;&#x017F;en<lb/>
habe ich &#x017F;o wenig Wohlgefallen an die&#x017F;em nie-<lb/>
drigen Streiche, daß gewiß die Stu&#x0364;ckchens des<lb/>
Buben des <hi rendition="#fr">Jo&#x017F;eph Lehmanns</hi> an das Licht<lb/>
kommen &#x017F;olten, wenn mir nur ertra&#x0364;glich begeg-<lb/>
net wu&#x0364;rde.</p><lb/>
          <p>Sie antwortete: es tha&#x0364;te ihr leid, daß ich ei-<lb/>
ne &#x017F;o &#x017F;chlechte Meinung von meinem Bruder<lb/>
ha&#x0364;tte. Er wa&#x0364;re ein Cavallier von &#x017F;cho&#x0364;nem Ver-<lb/>
&#x017F;tande und gro&#x017F;&#x017F;er Gelehr&#x017F;amkeit.</p><lb/>
          <fw place="bottom" type="catch">Ge-</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[512/0518] Die Geſchichte ſolchen Auffuͤhrung gegen mich bewuſt waͤre, die mich natuͤrlicher Weiſe treiben muͤßte, das zu thun, weswegen man mich in Verdacht haͤtte. Es waͤre ein groſſes Ungluͤck fuͤr mich, daß mein Bruder ſo groſſe Luſt haͤtte, ſeinen Verſtand an mir zu zeigen: er wuͤrde mehr Lob verdienen, wenn er Proben ſeines guten Hertzens als ſeines ſchlauen Kopfes an mir machte. Jch wuͤnſchte indeſſen, daß er ſich ſelbſt ſo gut kennen moͤchte, als ich ihn zu kennen glaubte, ſo wuͤrde er viel- leicht weniger von ſeinen Gemuͤths-Gaben ein- genommen ſeyn, die in anderer Augen viel ge- ringer ſcheinen wuͤrden, wenn er nicht ſo viel Vermoͤgen haͤtte mir unangenehme Dienſte zu erweiſen. Jch war voller Unwillen, und konnte es nicht unterlaſſen, dieſe Anmerckung zu machen, die der genugſam verdienete, den der andere durch ſeinen eigenen Spion hinter das Licht fuͤhrt. Jndeſſen habe ich ſo wenig Wohlgefallen an dieſem nie- drigen Streiche, daß gewiß die Stuͤckchens des Buben des Joſeph Lehmanns an das Licht kommen ſolten, wenn mir nur ertraͤglich begeg- net wuͤrde. Sie antwortete: es thaͤte ihr leid, daß ich ei- ne ſo ſchlechte Meinung von meinem Bruder haͤtte. Er waͤre ein Cavallier von ſchoͤnem Ver- ſtande und groſſer Gelehrſamkeit. Ge-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa02_1748
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa02_1748/518
Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 2. Göttingen, 1748, S. 512. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa02_1748/518>, abgerufen am 25.11.2024.