Jhr Stilleschweigen kommt mir wunderlich vor, mein Kind: (fing sie von neuen an.) Sie machen sich unendlich mehr Kummer vor der Hochzeit, als sie nach der Hochzeit haben wer- den. Jch darf sie aber doch darum fragen, ob sie nicht die Ehepacten sehen wollen, die er so edel- müthig entworffen und darin er sie so reichlich versorget hat? Sie haben mehr Verstand, als man von ihren Jahren erwarten sollte. Lesen sie doch nur einmahl den Aufsatz durch: er ist schon in das Reine geschrieben, und liegt bereits seit einiger Zeit zur Unterschrifft fertig. Entschul- digen sie mich, mein Hertz: ich will sie nicht gern beunruhigen. Allein ihr Herr Vater verlang- te von mir, daß ich den Contract mitnehmen und auf ihrer Stube lassen sollte. Er befiehlt ihnen, denselben durchzulesen: nur durchzule- sen; denn er war schon in das Reine geschrie- ben, ehe sie noch durch ihr Betragen alle Hoff- nung der Jhrigen zu Wasser gemacht hatten.
Hierauf zog sie zu meiner grosen Bestürtzung ein Pergamen aus einem Tuch, das sie bisher unbemerckt unter der Schürtze gehalten hatte, und legte es in das gegen über stehende Fenster. Jch hätte mich nicht mehr erschrecken können, wenn es eine Schlange gewesen wäre.
Jch kehrte das Gesicht weg, und sagte mit ausgespanneten Armen: o meine liebste Frau Base, schaffen sie mir das fürchterliche Perga- men aus den Augen. Jch beschwere sie bey al- lem, was Verwantschafft heißt, und bey ihrer
Ehre
D d 3
der Clariſſa.
Jhr Stilleſchweigen kommt mir wunderlich vor, mein Kind: (fing ſie von neuen an.) Sie machen ſich unendlich mehr Kummer vor der Hochzeit, als ſie nach der Hochzeit haben wer- den. Jch darf ſie aber doch darum fragen, ob ſie nicht die Ehepacten ſehen wollen, die er ſo edel- muͤthig entworffen und darin er ſie ſo reichlich verſorget hat? Sie haben mehr Verſtand, als man von ihren Jahren erwarten ſollte. Leſen ſie doch nur einmahl den Aufſatz durch: er iſt ſchon in das Reine geſchrieben, und liegt bereits ſeit einiger Zeit zur Unterſchrifft fertig. Entſchul- digen ſie mich, mein Hertz: ich will ſie nicht gern beunruhigen. Allein ihr Herr Vater verlang- te von mir, daß ich den Contract mitnehmen und auf ihrer Stube laſſen ſollte. Er befiehlt ihnen, denſelben durchzuleſen: nur durchzule- ſen; denn er war ſchon in das Reine geſchrie- ben, ehe ſie noch durch ihr Betragen alle Hoff- nung der Jhrigen zu Waſſer gemacht hatten.
Hierauf zog ſie zu meiner groſen Beſtuͤrtzung ein Pergamen aus einem Tuch, das ſie bisher unbemerckt unter der Schuͤrtze gehalten hatte, und legte es in das gegen uͤber ſtehende Fenſter. Jch haͤtte mich nicht mehr erſchrecken koͤnnen, wenn es eine Schlange geweſen waͤre.
Jch kehrte das Geſicht weg, und ſagte mit ausgeſpanneten Armen: o meine liebſte Frau Baſe, ſchaffen ſie mir das fuͤrchterliche Perga- men aus den Augen. Jch beſchwere ſie bey al- lem, was Verwantſchafft heißt, und bey ihrer
Ehre
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der Clariſſa.
Jhr Stilleſchweigen kommt mir wunderlich
vor, mein Kind: (fing ſie von neuen an.) Sie
machen ſich unendlich mehr Kummer vor der
Hochzeit, als ſie nach der Hochzeit haben wer-
den. Jch darf ſie aber doch darum fragen, ob ſie
nicht die Ehepacten ſehen wollen, die er ſo edel-
muͤthig entworffen und darin er ſie ſo reichlich
verſorget hat? Sie haben mehr Verſtand, als
man von ihren Jahren erwarten ſollte. Leſen ſie
doch nur einmahl den Aufſatz durch: er iſt ſchon
in das Reine geſchrieben, und liegt bereits ſeit
einiger Zeit zur Unterſchrifft fertig. Entſchul-
digen ſie mich, mein Hertz: ich will ſie nicht gern
beunruhigen. Allein ihr Herr Vater verlang-
te von mir, daß ich den Contract mitnehmen
und auf ihrer Stube laſſen ſollte. Er befiehlt
ihnen, denſelben durchzuleſen: nur durchzule-
ſen; denn er war ſchon in das Reine geſchrie-
ben, ehe ſie noch durch ihr Betragen alle Hoff-
nung der Jhrigen zu Waſſer gemacht hatten.
Hierauf zog ſie zu meiner groſen Beſtuͤrtzung
ein Pergamen aus einem Tuch, das ſie bisher
unbemerckt unter der Schuͤrtze gehalten hatte,
und legte es in das gegen uͤber ſtehende Fenſter.
Jch haͤtte mich nicht mehr erſchrecken koͤnnen,
wenn es eine Schlange geweſen waͤre.
Jch kehrte das Geſicht weg, und ſagte mit
ausgeſpanneten Armen: o meine liebſte Frau
Baſe, ſchaffen ſie mir das fuͤrchterliche Perga-
men aus den Augen. Jch beſchwere ſie bey al-
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 2. Göttingen, 1748, S. 421. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa02_1748/427>, abgerufen am 25.11.2024.
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