Jch zitterte, und wollte gleich in Ohnmacht sincken: und ohne zu wissen, was ich vornahm oder redete, flog ich nach der Thür zu, und woll- te sie eröffnen, wenn sie nicht mein Bruder zu- geschlagen und fest an dem Schlüssel gehalten hätte. Jch fiel vor der Thür auf die Knie, und tieff: O mein Vater, mein liebster Vater, las- sen sie doch ihr armes Kind vor sich. Erlau- ben sie mir, daß ich mich vor ihren Füssen ver- antworten darf. Verstossen sie ihre betrübte Tochter nicht völlig.
Mein Onckle hielt das Schnupftuch vor die Augen: Herr Solmes sahe noch betrübter aus, als vorhin. Nur das steinerne Hertz memes Bruders blieb unbeweglich.
Jch will nicht aufstehen, (fuhr ich fort) bis sie mich vor sich lassen. Jch liege vor dieser Thür und bitte. Lassen sie es doch eine Gna- denthür seyn, und eröffnen sie mir, nur dieses - - nur dieses eine mahl, wenn sie sie auch hernach mir auf ewig verschliessen wollten.
Es suchte jemand inwendig die Thür aufzu- machen, und mein Bruder ließ den Schlüssel augenblicklich fahren. Weil ich mich nun, wie ich auf meinen Knien lag, gegen die Thür ge- lehnet hatte, so fiel ich so lang ich war in den andern Saal hinein, jedoch ohne mich zu beschä- digen. Es war aber niemand mehr da, als Elisabeth/ die mir aufhalf. Als ich mich nun in dem Saal umgesehen hatte, und niemand mehr darin fand, so gieng ich wieder an der Eli-
sa-
Zweyter Theil. Y
der Clariſſa.
Jch zitterte, und wollte gleich in Ohnmacht ſincken: und ohne zu wiſſen, was ich vornahm oder redete, flog ich nach der Thuͤr zu, und woll- te ſie eroͤffnen, wenn ſie nicht mein Bruder zu- geſchlagen und feſt an dem Schluͤſſel gehalten haͤtte. Jch fiel vor der Thuͤr auf die Knie, und tieff: O mein Vater, mein liebſter Vater, laſ- ſen ſie doch ihr armes Kind vor ſich. Erlau- ben ſie mir, daß ich mich vor ihren Fuͤſſen ver- antworten darf. Verſtoſſen ſie ihre betruͤbte Tochter nicht voͤllig.
Mein Onckle hielt das Schnupftuch vor die Augen: Herr Solmes ſahe noch betruͤbter aus, als vorhin. Nur das ſteinerne Hertz memes Bruders blieb unbeweglich.
Jch will nicht aufſtehen, (fuhr ich fort) bis ſie mich vor ſich laſſen. Jch liege vor dieſer Thuͤr und bitte. Laſſen ſie es doch eine Gna- denthuͤr ſeyn, und eroͤffnen ſie mir, nur dieſes ‒ ‒ nur dieſes eine mahl, wenn ſie ſie auch hernach mir auf ewig verſchlieſſen wollten.
Es ſuchte jemand inwendig die Thuͤr aufzu- machen, und mein Bruder ließ den Schluͤſſel augenblicklich fahren. Weil ich mich nun, wie ich auf meinen Knien lag, gegen die Thuͤr ge- lehnet hatte, ſo fiel ich ſo lang ich war in den andern Saal hinein, jedoch ohne mich zu beſchaͤ- digen. Es war aber niemand mehr da, als Eliſabeth/ die mir aufhalf. Als ich mich nun in dem Saal umgeſehen hatte, und niemand mehr darin fand, ſo gieng ich wieder an der Eli-
ſa-
Zweyter Theil. Y
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der Clariſſa.
Jch zitterte, und wollte gleich in Ohnmacht
ſincken: und ohne zu wiſſen, was ich vornahm
oder redete, flog ich nach der Thuͤr zu, und woll-
te ſie eroͤffnen, wenn ſie nicht mein Bruder zu-
geſchlagen und feſt an dem Schluͤſſel gehalten
haͤtte. Jch fiel vor der Thuͤr auf die Knie, und
tieff: O mein Vater, mein liebſter Vater, laſ-
ſen ſie doch ihr armes Kind vor ſich. Erlau-
ben ſie mir, daß ich mich vor ihren Fuͤſſen ver-
antworten darf. Verſtoſſen ſie ihre betruͤbte
Tochter nicht voͤllig.
Mein Onckle hielt das Schnupftuch vor die
Augen: Herr Solmes ſahe noch betruͤbter aus,
als vorhin. Nur das ſteinerne Hertz memes
Bruders blieb unbeweglich.
Jch will nicht aufſtehen, (fuhr ich fort) bis
ſie mich vor ſich laſſen. Jch liege vor dieſer
Thuͤr und bitte. Laſſen ſie es doch eine Gna-
denthuͤr ſeyn, und eroͤffnen ſie mir, nur dieſes
‒ ‒ nur dieſes eine mahl, wenn ſie ſie auch
hernach mir auf ewig verſchlieſſen wollten.
Es ſuchte jemand inwendig die Thuͤr aufzu-
machen, und mein Bruder ließ den Schluͤſſel
augenblicklich fahren. Weil ich mich nun, wie
ich auf meinen Knien lag, gegen die Thuͤr ge-
lehnet hatte, ſo fiel ich ſo lang ich war in den
andern Saal hinein, jedoch ohne mich zu beſchaͤ-
digen. Es war aber niemand mehr da, als
Eliſabeth/ die mir aufhalf. Als ich mich nun
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 2. Göttingen, 1748, S. 337. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa02_1748/343>, abgerufen am 27.11.2024.
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