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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 2. Göttingen, 1748.

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Die Geschichte

Jch bin schon darüber hin, Fräulein Dorth-
gen/
ich frage nach meinem Bruder nichts mehr.
Meinem Vater bin ich schuldig zu gehorchen,
wenn ich gehorchen kan.

Wir sind insgesammt geneigt, die zu lieben,
die es mit uns halten; wenn uns Unreeht ge-
schiehet. Jch habe meine Base Dorthgen im-
mer lieb gehabt, allein jetzt habe ich sie noch zehn
mahl so lieb gewonnen, da ich ein so liebreiches
Mitleiden gegen mich bey ihr finde. Jch fragte
sie, was sie thun wollte, wenn sie in meinen Um-
ständen wäre?

Was ich? (sagte sie, ohne sich zu bedencken)
Gleich wollte ich Herrn Lovelace nehmen, und
mich auf mein Gut setzen; denn wäre die gantze
Sache zum Ende. Herr Lovelace ist ein ar-
tiger Herr, und Solmes ist nicht werth, sein
Schuh-Putzer zu seyn.

Fräulein Hervey erzählte mir noch ferner:
ihre Mutter hätte mich selbst herein ruffen sol-
len, sie hätte sich aber entschuldiget. Sie glaub-
te, daß alle meine Anverwanten über mich Ge-
richt halten sollten.

Jch wünschte, daß dieses geschehen möchte. Jch
habe aber nachher erfahren, daß sich mein Va-
ter und meine Mutter nicht wagen wollen, mich
zu sehen: er, wie es scheint, weil er allzu heftig
ist; und meine Mutter aus einer gütigern und
mehr mütterlichen Ursache.

Unter diesen Reden kamen wir in das Haus.
Die Fräulein begleitete mich bis an den Saal,

und
Die Geſchichte

Jch bin ſchon daruͤber hin, Fraͤulein Dorth-
gen/
ich frage nach meinem Bruder nichts mehr.
Meinem Vater bin ich ſchuldig zu gehorchen,
wenn ich gehorchen kan.

Wir ſind insgeſammt geneigt, die zu lieben,
die es mit uns halten; wenn uns Unreeht ge-
ſchiehet. Jch habe meine Baſe Dorthgen im-
mer lieb gehabt, allein jetzt habe ich ſie noch zehn
mahl ſo lieb gewonnen, da ich ein ſo liebreiches
Mitleiden gegen mich bey ihr finde. Jch fragte
ſie, was ſie thun wollte, wenn ſie in meinen Um-
ſtaͤnden waͤre?

Was ich? (ſagte ſie, ohne ſich zu bedencken)
Gleich wollte ich Herrn Lovelace nehmen, und
mich auf mein Gut ſetzen; denn waͤre die gantze
Sache zum Ende. Herr Lovelace iſt ein ar-
tiger Herr, und Solmes iſt nicht werth, ſein
Schuh-Putzer zu ſeyn.

Fraͤulein Hervey erzaͤhlte mir noch ferner:
ihre Mutter haͤtte mich ſelbſt herein ruffen ſol-
len, ſie haͤtte ſich aber entſchuldiget. Sie glaub-
te, daß alle meine Anverwanten uͤber mich Ge-
richt halten ſollten.

Jch wuͤnſchte, daß dieſes geſchehen moͤchte. Jch
habe aber nachher erfahren, daß ſich mein Va-
ter und meine Mutter nicht wagen wollen, mich
zu ſehen: er, wie es ſcheint, weil er allzu heftig
iſt; und meine Mutter aus einer guͤtigern und
mehr muͤtterlichen Urſache.

Unter dieſen Reden kamen wir in das Haus.
Die Fraͤulein begleitete mich bis an den Saal,

und
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[328/0334] Die Geſchichte Jch bin ſchon daruͤber hin, Fraͤulein Dorth- gen/ ich frage nach meinem Bruder nichts mehr. Meinem Vater bin ich ſchuldig zu gehorchen, wenn ich gehorchen kan. Wir ſind insgeſammt geneigt, die zu lieben, die es mit uns halten; wenn uns Unreeht ge- ſchiehet. Jch habe meine Baſe Dorthgen im- mer lieb gehabt, allein jetzt habe ich ſie noch zehn mahl ſo lieb gewonnen, da ich ein ſo liebreiches Mitleiden gegen mich bey ihr finde. Jch fragte ſie, was ſie thun wollte, wenn ſie in meinen Um- ſtaͤnden waͤre? Was ich? (ſagte ſie, ohne ſich zu bedencken) Gleich wollte ich Herrn Lovelace nehmen, und mich auf mein Gut ſetzen; denn waͤre die gantze Sache zum Ende. Herr Lovelace iſt ein ar- tiger Herr, und Solmes iſt nicht werth, ſein Schuh-Putzer zu ſeyn. Fraͤulein Hervey erzaͤhlte mir noch ferner: ihre Mutter haͤtte mich ſelbſt herein ruffen ſol- len, ſie haͤtte ſich aber entſchuldiget. Sie glaub- te, daß alle meine Anverwanten uͤber mich Ge- richt halten ſollten. Jch wuͤnſchte, daß dieſes geſchehen moͤchte. Jch habe aber nachher erfahren, daß ſich mein Va- ter und meine Mutter nicht wagen wollen, mich zu ſehen: er, wie es ſcheint, weil er allzu heftig iſt; und meine Mutter aus einer guͤtigern und mehr muͤtterlichen Urſache. Unter dieſen Reden kamen wir in das Haus. Die Fraͤulein begleitete mich bis an den Saal, und

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Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 2. Göttingen, 1748, S. 328. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa02_1748/334>, abgerufen am 24.11.2024.