ist es immer für edelmüthig und auch für eine Schuldigkeit, ein Vertrauen auf andere zu setzen. Wenn man von ihnen keine Ehrlichkeit und Treue erwartet, so berechtigt man sie beynahe bey Gelegenheit untreu zu seyn.
Herr Solmes (um noch ein Wort von die- sen nicht unnutzen Kleinigkeiten zu reden) wür- de bey seinen noch geringeren Sorgen, an mir eine schlechte Schlüssel-Verwahrerin gehabt ha- ben. Wenn ich Frau in einem Hause wäre, so wollte ich mir die Mühe nicht geben, und sie nicht einmahl den Bedienten machen, auf die Achtung zu geben, die sich bey mir verdächtig ma- chen würden. Leute von niedrigem Stande, ha- ben deshalb nicht immer ein niederträchtiges Ge- müth. Oft komme ich fast auf die Gedancken, daß sich unter den armen und niedrigen mehr ehrliche und erhabene Gemüher finden, als un- ter den vornehmen: Denn jene halten die Ehr- lichkeit für ihre eintzige Ehre, allein diese wer- den durch die Herrfchsucht, durch Ehrgeitz, durch Wohllust verführet. Es entstehet hieraus eine so seltsame Ruhm-Begierde, die oft die Begier- de nach wahrer Ehre ersticket.
Viele gemeine Leute würden es für allzu nie- derträchtig halten, den zu betriegen, der sich auf sie verläßt: und bey denen unter ihnen, die sonst die dummesten zu seyn schienen, habe ich oft ei- ne grosse Empfindlichkeit wahrgenommen, so bald man in ihre Ehrlichkeit ein Mistrauen setz- te. Jch habe öfters den Mägden Vorstellung
thun
Die Geſchichte
iſt es immer fuͤr edelmuͤthig und auch fuͤr eine Schuldigkeit, ein Vertrauen auf andere zu ſetzen. Wenn man von ihnen keine Ehrlichkeit und Treue erwartet, ſo berechtigt man ſie beynahe bey Gelegenheit untreu zu ſeyn.
Herr Solmes (um noch ein Wort von die- ſen nicht unnutzen Kleinigkeiten zu reden) wuͤr- de bey ſeinen noch geringeren Sorgen, an mir eine ſchlechte Schluͤſſel-Verwahrerin gehabt ha- ben. Wenn ich Frau in einem Hauſe waͤre, ſo wollte ich mir die Muͤhe nicht geben, und ſie nicht einmahl den Bedienten machen, auf die Achtung zu geben, die ſich bey mir verdaͤchtig ma- chen wuͤrden. Leute von niedrigem Stande, ha- ben deshalb nicht immer ein niedertraͤchtiges Ge- muͤth. Oft komme ich faſt auf die Gedancken, daß ſich unter den armen und niedrigen mehr ehrliche und erhabene Gemuͤher finden, als un- ter den vornehmen: Denn jene halten die Ehr- lichkeit fuͤr ihre eintzige Ehre, allein dieſe wer- den durch die Herrfchſucht, durch Ehrgeitz, durch Wohlluſt verfuͤhret. Es entſtehet hieraus eine ſo ſeltſame Ruhm-Begierde, die oft die Begier- de nach wahrer Ehre erſticket.
Viele gemeine Leute wuͤrden es fuͤr allzu nie- dertraͤchtig halten, den zu betriegen, der ſich auf ſie verlaͤßt: und bey denen unter ihnen, die ſonſt die dummeſten zu ſeyn ſchienen, habe ich oft ei- ne groſſe Empfindlichkeit wahrgenommen, ſo bald man in ihre Ehrlichkeit ein Mistrauen ſetz- te. Jch habe oͤfters den Maͤgden Vorſtellung
thun
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Die Geſchichte
iſt es immer fuͤr edelmuͤthig und auch fuͤr eine
Schuldigkeit, ein Vertrauen auf andere zu ſetzen.
Wenn man von ihnen keine Ehrlichkeit und
Treue erwartet, ſo berechtigt man ſie beynahe
bey Gelegenheit untreu zu ſeyn.
Herr Solmes (um noch ein Wort von die-
ſen nicht unnutzen Kleinigkeiten zu reden) wuͤr-
de bey ſeinen noch geringeren Sorgen, an mir
eine ſchlechte Schluͤſſel-Verwahrerin gehabt ha-
ben. Wenn ich Frau in einem Hauſe waͤre,
ſo wollte ich mir die Muͤhe nicht geben, und ſie
nicht einmahl den Bedienten machen, auf die
Achtung zu geben, die ſich bey mir verdaͤchtig ma-
chen wuͤrden. Leute von niedrigem Stande, ha-
ben deshalb nicht immer ein niedertraͤchtiges Ge-
muͤth. Oft komme ich faſt auf die Gedancken,
daß ſich unter den armen und niedrigen mehr
ehrliche und erhabene Gemuͤher finden, als un-
ter den vornehmen: Denn jene halten die Ehr-
lichkeit fuͤr ihre eintzige Ehre, allein dieſe wer-
den durch die Herrfchſucht, durch Ehrgeitz, durch
Wohlluſt verfuͤhret. Es entſtehet hieraus eine
ſo ſeltſame Ruhm-Begierde, die oft die Begier-
de nach wahrer Ehre erſticket.
Viele gemeine Leute wuͤrden es fuͤr allzu nie-
dertraͤchtig halten, den zu betriegen, der ſich auf
ſie verlaͤßt: und bey denen unter ihnen, die ſonſt
die dummeſten zu ſeyn ſchienen, habe ich oft ei-
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bald man in ihre Ehrlichkeit ein Mistrauen ſetz-
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 2. Göttingen, 1748, S. 240. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa02_1748/246>, abgerufen am 22.11.2024.
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