Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 2. Göttingen, 1748.

Bild:
<< vorherige Seite

der Clarissa.
te, sagte ich ihr: "Die Munterkeit des Witzes,
"die sie bey sich fände, sey nicht ihr persönlicher
"Vorzug, sondern ein Vorzug unsers gantzen
"Geschlechts, welches in allem dem, was die
"Einbildungskraft anginge, es dem andern Ge-
"schlechte zuvor thäte. Daher, sagte ich, kommt
"es, Jungfer Lisgen, daß eure Gabe beissend
"und empfindlich zu reden bey gegebener Gelegen-
"heit vielmehr in die Augen fällt, als man es
"sonst von einer erwarten sollte, deren Eltern/
"nach eurer Redensart, nicht so gekonnt ha-
"ben/ als sie gewollt hat.
"

Sie gab mir eine Probe von dem was ich ge-
sagt hatte, die ich mir nicht vermuthen war.
Sie sagte: wenn unser Geschlecht einen so
grossen Vorzug in beissenden Reden hat/
so kan man sich desto weniger verwun-
dern/ daß sie bey einer solchen Erziehung
jedermann/ und sogar alle Frauenzimmer/
die ihnen nahe kommen/ darinn über-
treffen.

"GOtt behüte! antwortete ich: was für eine
"Probe eures Witzes und eurer Dreistigkeit gebt
"ihr mir? Jhr übertreft euch diesesmahl selbst.
"Frauenzimmer von meinen Jahren würden
"weniger Versuchung von Hochmuth haben
"und vorsichtiger werden, wenn sie alle solche
"Cammer-Jungfern hätten, denen der Mund
"eben so geöfnet wäre, als euch. Nehmt das
"Essen ab!"

Wie? Fräulein/ sie haben ja gar nichts

geges-
M 3

der Clariſſa.
te, ſagte ich ihr: „Die Munterkeit des Witzes,
„die ſie bey ſich faͤnde, ſey nicht ihr perſoͤnlicher
„Vorzug, ſondern ein Vorzug unſers gantzen
„Geſchlechts, welches in allem dem, was die
„Einbildungskraft anginge, es dem andern Ge-
„ſchlechte zuvor thaͤte. Daher, ſagte ich, kommt
„es, Jungfer Lisgen, daß eure Gabe beiſſend
„und empfindlich zu reden bey gegebener Gelegen-
„heit vielmehr in die Augen faͤllt, als man es
„ſonſt von einer erwarten ſollte, deren Eltern/
„nach eurer Redensart, nicht ſo gekonnt ha-
„ben/ als ſie gewollt hat.

Sie gab mir eine Probe von dem was ich ge-
ſagt hatte, die ich mir nicht vermuthen war.
Sie ſagte: wenn unſer Geſchlecht einen ſo
groſſen Vorzug in beiſſenden Reden hat/
ſo kan man ſich deſto weniger verwun-
dern/ daß ſie bey einer ſolchen Erziehung
jedermann/ und ſogar alle Frauenzimmer/
die ihnen nahe kommen/ darinn uͤber-
treffen.

„GOtt behuͤte! antwortete ich: was fuͤr eine
„Probe eures Witzes und eurer Dreiſtigkeit gebt
„ihr mir? Jhr uͤbertreft euch dieſesmahl ſelbſt.
„Frauenzimmer von meinen Jahren wuͤrden
„weniger Verſuchung von Hochmuth haben
„und vorſichtiger werden, wenn ſie alle ſolche
„Cammer-Jungfern haͤtten, denen der Mund
„eben ſo geoͤfnet waͤre, als euch. Nehmt das
„Eſſen ab!„

Wie? Fraͤulein/ ſie haben ja gar nichts

gegeſ-
M 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0187" n="181"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#g">der Clari&#x017F;&#x017F;a</hi>.</hi></fw><lb/>
te, &#x017F;agte ich ihr: &#x201E;Die Munterkeit des Witzes,<lb/>
&#x201E;die &#x017F;ie bey &#x017F;ich fa&#x0364;nde, &#x017F;ey nicht ihr per&#x017F;o&#x0364;nlicher<lb/>
&#x201E;Vorzug, &#x017F;ondern ein Vorzug un&#x017F;ers gantzen<lb/>
&#x201E;Ge&#x017F;chlechts, welches in allem dem, was die<lb/>
&#x201E;Einbildungskraft anginge, es dem andern Ge-<lb/>
&#x201E;&#x017F;chlechte zuvor tha&#x0364;te. Daher, &#x017F;agte ich, kommt<lb/>
&#x201E;es, Jungfer Lisgen, daß eure Gabe bei&#x017F;&#x017F;end<lb/>
&#x201E;und empfindlich zu reden bey gegebener Gelegen-<lb/>
&#x201E;heit vielmehr in die Augen fa&#x0364;llt, als man es<lb/>
&#x201E;&#x017F;on&#x017F;t von einer erwarten &#x017F;ollte, <hi rendition="#fr">deren Eltern/</hi><lb/>
&#x201E;nach eurer Redensart, <hi rendition="#fr">nicht &#x017F;o gekonnt ha-<lb/>
&#x201E;ben/ als &#x017F;ie gewollt hat.</hi>&#x201E;</p><lb/>
          <p>Sie gab mir eine Probe von dem was ich ge-<lb/>
&#x017F;agt hatte, die ich mir nicht vermuthen war.<lb/>
Sie &#x017F;agte: <hi rendition="#fr">wenn un&#x017F;er Ge&#x017F;chlecht einen &#x017F;o<lb/>
gro&#x017F;&#x017F;en Vorzug in bei&#x017F;&#x017F;enden Reden hat/<lb/>
&#x017F;o kan man &#x017F;ich de&#x017F;to weniger verwun-<lb/>
dern/ daß &#x017F;ie bey einer &#x017F;olchen Erziehung<lb/>
jedermann/ und &#x017F;ogar alle Frauenzimmer/<lb/>
die ihnen nahe kommen/ darinn u&#x0364;ber-<lb/>
treffen.</hi></p><lb/>
          <p>&#x201E;GOtt behu&#x0364;te! antwortete ich: was fu&#x0364;r eine<lb/>
&#x201E;Probe eures Witzes und eurer Drei&#x017F;tigkeit gebt<lb/>
&#x201E;ihr mir? Jhr u&#x0364;bertreft euch die&#x017F;esmahl &#x017F;elb&#x017F;t.<lb/>
&#x201E;Frauenzimmer von meinen Jahren wu&#x0364;rden<lb/>
&#x201E;weniger Ver&#x017F;uchung von Hochmuth haben<lb/>
&#x201E;und vor&#x017F;ichtiger werden, wenn &#x017F;ie alle &#x017F;olche<lb/>
&#x201E;Cammer-Jungfern ha&#x0364;tten, denen der Mund<lb/>
&#x201E;eben &#x017F;o geo&#x0364;fnet wa&#x0364;re, als euch. Nehmt das<lb/>
&#x201E;E&#x017F;&#x017F;en ab!&#x201E;</p><lb/>
          <p> <hi rendition="#fr">Wie? Fra&#x0364;ulein/ &#x017F;ie haben ja gar nichts</hi><lb/>
            <fw place="bottom" type="sig">M 3</fw>
            <fw place="bottom" type="catch"> <hi rendition="#fr">gege&#x017F;-</hi> </fw><lb/>
          </p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[181/0187] der Clariſſa. te, ſagte ich ihr: „Die Munterkeit des Witzes, „die ſie bey ſich faͤnde, ſey nicht ihr perſoͤnlicher „Vorzug, ſondern ein Vorzug unſers gantzen „Geſchlechts, welches in allem dem, was die „Einbildungskraft anginge, es dem andern Ge- „ſchlechte zuvor thaͤte. Daher, ſagte ich, kommt „es, Jungfer Lisgen, daß eure Gabe beiſſend „und empfindlich zu reden bey gegebener Gelegen- „heit vielmehr in die Augen faͤllt, als man es „ſonſt von einer erwarten ſollte, deren Eltern/ „nach eurer Redensart, nicht ſo gekonnt ha- „ben/ als ſie gewollt hat.„ Sie gab mir eine Probe von dem was ich ge- ſagt hatte, die ich mir nicht vermuthen war. Sie ſagte: wenn unſer Geſchlecht einen ſo groſſen Vorzug in beiſſenden Reden hat/ ſo kan man ſich deſto weniger verwun- dern/ daß ſie bey einer ſolchen Erziehung jedermann/ und ſogar alle Frauenzimmer/ die ihnen nahe kommen/ darinn uͤber- treffen. „GOtt behuͤte! antwortete ich: was fuͤr eine „Probe eures Witzes und eurer Dreiſtigkeit gebt „ihr mir? Jhr uͤbertreft euch dieſesmahl ſelbſt. „Frauenzimmer von meinen Jahren wuͤrden „weniger Verſuchung von Hochmuth haben „und vorſichtiger werden, wenn ſie alle ſolche „Cammer-Jungfern haͤtten, denen der Mund „eben ſo geoͤfnet waͤre, als euch. Nehmt das „Eſſen ab!„ Wie? Fraͤulein/ ſie haben ja gar nichts gegeſ- M 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa02_1748
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa02_1748/187
Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 2. Göttingen, 1748, S. 181. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa02_1748/187>, abgerufen am 28.11.2024.