Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 2. Göttingen, 1748.

Bild:
<< vorherige Seite
der Clarissa.

Jch konnte alles dieses desto leichter von ihr
heraus kriegen, weil es wider mich war, und
mir nothwendig Verdruß machen mußte. Da
ich aber die artige Erzählung bey mir weiter
überlegte, und daraus merckte, daß jemand für
mich gesprochen haben müßte, so war ich be-
gierig zu wissen, wer auf meiner Seite gewe-
sen wäre. Allein das wollte mir Elisabeth
nicht sagen, damit es mir nicht zum Trost ge-
reichen möchte, daß nicht alle wider mich gewe-
sen wären.

Sehen Sie aber nun nicht ein, was das für
eine wunderliche Misgeburt ist, die Sie Jhrer
Freundschafft würdigen? Sie wissen, wie viel
Sie bey mir vermögen: warum haben Sie
denn diese Laster an mir nicht längstens bestrafft?
Warum haben Sie nicht mit eben der Freymü-
thigkeit, die ich gegen Sie gebrauche, mir vor-
gehalten, daß ich eine Heuchlerin bin? Da die-
ses mein Bruder und meine Schwester haben
mercken können, so wundere ich mich, wie es
Jhren Augen hat verborgen bleiben können, die
doch Fehler von einer viel geheimeren Art an
mir entdeckt zu haben glauben?

Jetzt scheinen sie zu überlegen, wer mir ant-
worten soll? Und wie die Antwort eingerichtet
werden müsse? Denn sie wissen nicht, und sie
müssen auch nicht wissen, daß ich dieses von
Elisabeth gehört habe. Es scheint, der eine
will sich gern entschuldigen: der andere will lie-
ber nichts mit mir zu thun haben: wieder ein

an-
der Clariſſa.

Jch konnte alles dieſes deſto leichter von ihr
heraus kriegen, weil es wider mich war, und
mir nothwendig Verdruß machen mußte. Da
ich aber die artige Erzaͤhlung bey mir weiter
uͤberlegte, und daraus merckte, daß jemand fuͤr
mich geſprochen haben muͤßte, ſo war ich be-
gierig zu wiſſen, wer auf meiner Seite gewe-
ſen waͤre. Allein das wollte mir Eliſabeth
nicht ſagen, damit es mir nicht zum Troſt ge-
reichen moͤchte, daß nicht alle wider mich gewe-
ſen waͤren.

Sehen Sie aber nun nicht ein, was das fuͤr
eine wunderliche Misgeburt iſt, die Sie Jhrer
Freundſchafft wuͤrdigen? Sie wiſſen, wie viel
Sie bey mir vermoͤgen: warum haben Sie
denn dieſe Laſter an mir nicht laͤngſtens beſtrafft?
Warum haben Sie nicht mit eben der Freymuͤ-
thigkeit, die ich gegen Sie gebrauche, mir vor-
gehalten, daß ich eine Heuchlerin bin? Da die-
ſes mein Bruder und meine Schweſter haben
mercken koͤnnen, ſo wundere ich mich, wie es
Jhren Augen hat verborgen bleiben koͤnnen, die
doch Fehler von einer viel geheimeren Art an
mir entdeckt zu haben glauben?

Jetzt ſcheinen ſie zu uͤberlegen, wer mir ant-
worten ſoll? Und wie die Antwort eingerichtet
werden muͤſſe? Denn ſie wiſſen nicht, und ſie
muͤſſen auch nicht wiſſen, daß ich dieſes von
Eliſabeth gehoͤrt habe. Es ſcheint, der eine
will ſich gern entſchuldigen: der andere will lie-
ber nichts mit mir zu thun haben: wieder ein

an-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0163" n="157"/>
          <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b"><hi rendition="#g">der Clari&#x017F;&#x017F;a</hi>.</hi> </fw><lb/>
          <p>Jch konnte alles die&#x017F;es de&#x017F;to leichter von ihr<lb/>
heraus kriegen, weil es wider mich war, und<lb/>
mir nothwendig Verdruß machen mußte. Da<lb/>
ich aber die artige Erza&#x0364;hlung bey mir weiter<lb/>
u&#x0364;berlegte, und daraus merckte, daß jemand fu&#x0364;r<lb/>
mich ge&#x017F;prochen haben mu&#x0364;ßte, &#x017F;o war ich be-<lb/>
gierig zu wi&#x017F;&#x017F;en, wer auf meiner Seite gewe-<lb/>
&#x017F;en wa&#x0364;re. Allein das wollte mir <hi rendition="#fr">Eli&#x017F;abeth</hi><lb/>
nicht &#x017F;agen, damit es mir nicht zum Tro&#x017F;t ge-<lb/>
reichen mo&#x0364;chte, daß nicht alle wider mich gewe-<lb/>
&#x017F;en wa&#x0364;ren.</p><lb/>
          <p>Sehen Sie aber nun nicht ein, was das fu&#x0364;r<lb/>
eine wunderliche Misgeburt i&#x017F;t, die Sie Jhrer<lb/>
Freund&#x017F;chafft wu&#x0364;rdigen? Sie wi&#x017F;&#x017F;en, wie viel<lb/>
Sie bey mir vermo&#x0364;gen: warum haben Sie<lb/>
denn die&#x017F;e La&#x017F;ter an mir nicht la&#x0364;ng&#x017F;tens be&#x017F;trafft?<lb/>
Warum haben Sie nicht mit eben der Freymu&#x0364;-<lb/>
thigkeit, die ich gegen Sie gebrauche, mir vor-<lb/>
gehalten, daß ich eine Heuchlerin bin? Da die-<lb/>
&#x017F;es mein Bruder und meine Schwe&#x017F;ter haben<lb/>
mercken ko&#x0364;nnen, &#x017F;o wundere ich mich, wie es<lb/>
Jhren Augen hat verborgen bleiben ko&#x0364;nnen, die<lb/>
doch Fehler von einer viel geheimeren Art an<lb/>
mir entdeckt zu haben glauben?</p><lb/>
          <p>Jetzt &#x017F;cheinen &#x017F;ie zu u&#x0364;berlegen, wer mir ant-<lb/>
worten &#x017F;oll? Und wie die Antwort eingerichtet<lb/>
werden mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e? Denn &#x017F;ie wi&#x017F;&#x017F;en nicht, und &#x017F;ie<lb/><hi rendition="#fr">mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en</hi> auch nicht wi&#x017F;&#x017F;en, daß ich die&#x017F;es von<lb/><hi rendition="#fr">Eli&#x017F;abeth</hi> geho&#x0364;rt habe. Es &#x017F;cheint, der eine<lb/>
will &#x017F;ich gern ent&#x017F;chuldigen: der andere will lie-<lb/>
ber nichts mit mir zu thun haben: wieder ein<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">an-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[157/0163] der Clariſſa. Jch konnte alles dieſes deſto leichter von ihr heraus kriegen, weil es wider mich war, und mir nothwendig Verdruß machen mußte. Da ich aber die artige Erzaͤhlung bey mir weiter uͤberlegte, und daraus merckte, daß jemand fuͤr mich geſprochen haben muͤßte, ſo war ich be- gierig zu wiſſen, wer auf meiner Seite gewe- ſen waͤre. Allein das wollte mir Eliſabeth nicht ſagen, damit es mir nicht zum Troſt ge- reichen moͤchte, daß nicht alle wider mich gewe- ſen waͤren. Sehen Sie aber nun nicht ein, was das fuͤr eine wunderliche Misgeburt iſt, die Sie Jhrer Freundſchafft wuͤrdigen? Sie wiſſen, wie viel Sie bey mir vermoͤgen: warum haben Sie denn dieſe Laſter an mir nicht laͤngſtens beſtrafft? Warum haben Sie nicht mit eben der Freymuͤ- thigkeit, die ich gegen Sie gebrauche, mir vor- gehalten, daß ich eine Heuchlerin bin? Da die- ſes mein Bruder und meine Schweſter haben mercken koͤnnen, ſo wundere ich mich, wie es Jhren Augen hat verborgen bleiben koͤnnen, die doch Fehler von einer viel geheimeren Art an mir entdeckt zu haben glauben? Jetzt ſcheinen ſie zu uͤberlegen, wer mir ant- worten ſoll? Und wie die Antwort eingerichtet werden muͤſſe? Denn ſie wiſſen nicht, und ſie muͤſſen auch nicht wiſſen, daß ich dieſes von Eliſabeth gehoͤrt habe. Es ſcheint, der eine will ſich gern entſchuldigen: der andere will lie- ber nichts mit mir zu thun haben: wieder ein an-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa02_1748
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa02_1748/163
Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 2. Göttingen, 1748, S. 157. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa02_1748/163>, abgerufen am 22.11.2024.