Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 2. Göttingen, 1748.

Bild:
<< vorherige Seite

der Clarissa.
sind. Allein wie würde die Antwort in einem
Alter von achtzehn Jahren ausgefallen seyn?

Sie sagt: man müsse entweder glauben, daß
die Neigungen eines solchen Frauenzimmers, die
es nicht verleugnen könnte, ungemein heftig
wären? (und das würde sich keine wohlgezoge-
ne und artige Person gern nachsagen lassen) oder,
daß es sehr eigensinnig wäre, und sich nicht ver-
leugnen wollte: oder es müßte ihm nicht viel
daran gelegen seyn, ob es seinen Eltern eine Ge-
fälligkeit erzeigte.

Sie wissen, daß meine Mutter bisweilen sehr
starck oder wenigstens sehr hitzig schliesset. Wir
sind sehr oft von verschiedener Meinung; und
ein jeder hat seinen eigenen Beweiß so lieb, daß
wir selten so glücklich sind, einander zu über-
zeugen. Es pflegt wohl, wie ich glaube, bey al-
lem Streit so zu gehen, in den sich unsere Hef-
tigkeit einmischet. Sie sagt alsdenn: ich wä-
re gar zu witzig.
Es wird wol eben so viel
bedeuten, als vorwitzig in unserer Land-Spra-
che bedeutet. Jch antworte: sie sey gar zu
verständig.
Das ist in einer deutlichen Ue-
bersetzung so viel, als: sie sey nicht mehr so
jung/ als sie gewesen ist:
und nachdem sie
Mutter geworden, habe sie vergessen, wie ihr
zu Muthe gewesen, da sie noch Tochter war.
Wir vertragen uns gleichsam darüber, eine an-
dere Quelle zu nennen, und eine andere im Her-
tzen zu meinen: aber ohne uns darüber zu ver-
tragen, lassen wir doch die wahre Quelle biswei-

len
H 3

der Clariſſa.
ſind. Allein wie wuͤrde die Antwort in einem
Alter von achtzehn Jahren ausgefallen ſeyn?

Sie ſagt: man muͤſſe entweder glauben, daß
die Neigungen eines ſolchen Frauenzimmers, die
es nicht verleugnen koͤnnte, ungemein heftig
waͤren? (und das wuͤrde ſich keine wohlgezoge-
ne und artige Perſon gern nachſagen laſſen) oder,
daß es ſehr eigenſinnig waͤre, und ſich nicht ver-
leugnen wollte: oder es muͤßte ihm nicht viel
daran gelegen ſeyn, ob es ſeinen Eltern eine Ge-
faͤlligkeit erzeigte.

Sie wiſſen, daß meine Mutter bisweilen ſehr
ſtarck oder wenigſtens ſehr hitzig ſchlieſſet. Wir
ſind ſehr oft von verſchiedener Meinung; und
ein jeder hat ſeinen eigenen Beweiß ſo lieb, daß
wir ſelten ſo gluͤcklich ſind, einander zu uͤber-
zeugen. Es pflegt wohl, wie ich glaube, bey al-
lem Streit ſo zu gehen, in den ſich unſere Hef-
tigkeit einmiſchet. Sie ſagt alsdenn: ich waͤ-
re gar zu witzig.
Es wird wol eben ſo viel
bedeuten, als vorwitzig in unſerer Land-Spra-
che bedeutet. Jch antworte: ſie ſey gar zu
verſtaͤndig.
Das iſt in einer deutlichen Ue-
berſetzung ſo viel, als: ſie ſey nicht mehr ſo
jung/ als ſie geweſen iſt:
und nachdem ſie
Mutter geworden, habe ſie vergeſſen, wie ihr
zu Muthe geweſen, da ſie noch Tochter war.
Wir vertragen uns gleichſam daruͤber, eine an-
dere Quelle zu nennen, und eine andere im Her-
tzen zu meinen: aber ohne uns daruͤber zu ver-
tragen, laſſen wir doch die wahre Quelle biswei-

len
H 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0123" n="117"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#g">der Clari&#x017F;&#x017F;a</hi>.</hi></fw><lb/>
&#x017F;ind. Allein wie wu&#x0364;rde die Antwort in einem<lb/>
Alter von achtzehn Jahren ausgefallen &#x017F;eyn?</p><lb/>
          <p>Sie &#x017F;agt: man mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e entweder glauben, daß<lb/>
die Neigungen eines &#x017F;olchen Frauenzimmers, die<lb/>
es nicht verleugnen ko&#x0364;nnte, ungemein heftig<lb/>
wa&#x0364;ren? (und das wu&#x0364;rde &#x017F;ich keine wohlgezoge-<lb/>
ne und artige Per&#x017F;on gern nach&#x017F;agen la&#x017F;&#x017F;en) oder,<lb/>
daß es &#x017F;ehr eigen&#x017F;innig wa&#x0364;re, und &#x017F;ich nicht ver-<lb/>
leugnen <hi rendition="#fr">wollte:</hi> oder es mu&#x0364;ßte ihm nicht viel<lb/>
daran gelegen &#x017F;eyn, ob es &#x017F;einen Eltern eine Ge-<lb/>
fa&#x0364;lligkeit erzeigte.</p><lb/>
          <p>Sie wi&#x017F;&#x017F;en, daß meine Mutter bisweilen &#x017F;ehr<lb/>
&#x017F;tarck oder wenig&#x017F;tens &#x017F;ehr hitzig &#x017F;chlie&#x017F;&#x017F;et. Wir<lb/>
&#x017F;ind &#x017F;ehr oft von ver&#x017F;chiedener Meinung; und<lb/>
ein jeder hat &#x017F;einen eigenen Beweiß &#x017F;o lieb, daß<lb/>
wir &#x017F;elten &#x017F;o glu&#x0364;cklich &#x017F;ind, einander zu u&#x0364;ber-<lb/>
zeugen. Es pflegt wohl, wie ich glaube, bey al-<lb/>
lem Streit &#x017F;o zu gehen, in den &#x017F;ich un&#x017F;ere Hef-<lb/>
tigkeit einmi&#x017F;chet. Sie &#x017F;agt alsdenn: <hi rendition="#fr">ich wa&#x0364;-<lb/>
re gar zu witzig.</hi> Es wird wol eben &#x017F;o viel<lb/>
bedeuten, als <hi rendition="#fr">vorwitzig</hi> in un&#x017F;erer Land-Spra-<lb/>
che bedeutet. Jch antworte: <hi rendition="#fr">&#x017F;ie &#x017F;ey gar zu<lb/>
ver&#x017F;ta&#x0364;ndig.</hi> Das i&#x017F;t in einer deutlichen Ue-<lb/>
ber&#x017F;etzung &#x017F;o viel, als: <hi rendition="#fr">&#x017F;ie &#x017F;ey nicht mehr &#x017F;o<lb/>
jung/ als &#x017F;ie gewe&#x017F;en i&#x017F;t:</hi> und nachdem &#x017F;ie<lb/><hi rendition="#fr">Mutter</hi> geworden, habe &#x017F;ie verge&#x017F;&#x017F;en, wie ihr<lb/>
zu Muthe gewe&#x017F;en, da &#x017F;ie noch <hi rendition="#fr">Tochter</hi> war.<lb/>
Wir vertragen uns gleich&#x017F;am daru&#x0364;ber, eine an-<lb/>
dere Quelle zu nennen, und eine andere im Her-<lb/>
tzen zu meinen: aber ohne uns daru&#x0364;ber zu ver-<lb/>
tragen, la&#x017F;&#x017F;en wir doch die wahre Quelle biswei-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">H 3</fw><fw place="bottom" type="catch">len</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[117/0123] der Clariſſa. ſind. Allein wie wuͤrde die Antwort in einem Alter von achtzehn Jahren ausgefallen ſeyn? Sie ſagt: man muͤſſe entweder glauben, daß die Neigungen eines ſolchen Frauenzimmers, die es nicht verleugnen koͤnnte, ungemein heftig waͤren? (und das wuͤrde ſich keine wohlgezoge- ne und artige Perſon gern nachſagen laſſen) oder, daß es ſehr eigenſinnig waͤre, und ſich nicht ver- leugnen wollte: oder es muͤßte ihm nicht viel daran gelegen ſeyn, ob es ſeinen Eltern eine Ge- faͤlligkeit erzeigte. Sie wiſſen, daß meine Mutter bisweilen ſehr ſtarck oder wenigſtens ſehr hitzig ſchlieſſet. Wir ſind ſehr oft von verſchiedener Meinung; und ein jeder hat ſeinen eigenen Beweiß ſo lieb, daß wir ſelten ſo gluͤcklich ſind, einander zu uͤber- zeugen. Es pflegt wohl, wie ich glaube, bey al- lem Streit ſo zu gehen, in den ſich unſere Hef- tigkeit einmiſchet. Sie ſagt alsdenn: ich waͤ- re gar zu witzig. Es wird wol eben ſo viel bedeuten, als vorwitzig in unſerer Land-Spra- che bedeutet. Jch antworte: ſie ſey gar zu verſtaͤndig. Das iſt in einer deutlichen Ue- berſetzung ſo viel, als: ſie ſey nicht mehr ſo jung/ als ſie geweſen iſt: und nachdem ſie Mutter geworden, habe ſie vergeſſen, wie ihr zu Muthe geweſen, da ſie noch Tochter war. Wir vertragen uns gleichſam daruͤber, eine an- dere Quelle zu nennen, und eine andere im Her- tzen zu meinen: aber ohne uns daruͤber zu ver- tragen, laſſen wir doch die wahre Quelle biswei- len H 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa02_1748
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa02_1748/123
Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 2. Göttingen, 1748, S. 117. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa02_1748/123>, abgerufen am 22.11.2024.