Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 2. Göttingen, 1748.

Bild:
<< vorherige Seite

der Clarissa.

ein edles und offenes Hertz, da ihm Menschen-
Liebe, gute Sitten, und alles das, was einen
Mann macht, gäntzlich mangelt. Wie viel Ge-
duld, wie viel Großmuth müßte ein Frauenzim-
mer haben, wenn sie ihren Mann nicht verach-
ten sollte, der noch unwissender, noch unbelesener,
und noch niederträchtiger wäre, als sie sich selbst
schätzen kan? Der elende Tropf soll Herr im
Hause heissen, und hat das Recht, das Haupt
der gantzen Familie zu seyn! Wenn die Frau
seine Rechte kräncket, so bringet es der hersch-
süchtigen Frau eben so wenig Ehre als dem ge-
horsamen Manne! Wie kann ein solcher Mann
einer vernünftigen Frauen erträglich seyn, wenn
sie auch aus Absicht auf ihren Vortheil ihn selbst
gewählet hätte? Allein, wenn man gar gezwun-
gen, und noch dazu aus solchen Ursachen, deren
sich der zwingende und der leidende Theil schä-
men müssen, gezwungen wird einensolchen Mann
zu nehmen; so ist es gantz ohnmöglich, einen so
gerechten Widerwillen zu überwinden. Wie viel
leichter ist es mir, die überhingehenden Widrig-
keiten zu ertragen, die ich jetzt auszustehen habe,
als mein gantzes Leben einem solchen Manne auf-
zuopfern! Wenn ich mich bequemen wollte, so
müste ich die Gesellschaft der Meinigen verlassen,
und mich mit seinem Umgange befriedigen. Ein
eintziger betrübter Monath steht mir etwan be-
vor, wenn ich auf der abschlägigen Antwort be-
harre: allein wenn ich Ja sage, so sehe ich ein
gantzes Leben voll Wehe und Unglück vor mir;

und
G 4

der Clariſſa.

ein edles und offenes Hertz, da ihm Menſchen-
Liebe, gute Sitten, und alles das, was einen
Mann macht, gaͤntzlich mangelt. Wie viel Ge-
duld, wie viel Großmuth muͤßte ein Frauenzim-
mer haben, wenn ſie ihren Mann nicht verach-
ten ſollte, der noch unwiſſender, noch unbeleſener,
und noch niedertraͤchtiger waͤre, als ſie ſich ſelbſt
ſchaͤtzen kan? Der elende Tropf ſoll Herr im
Hauſe heiſſen, und hat das Recht, das Haupt
der gantzen Familie zu ſeyn! Wenn die Frau
ſeine Rechte kraͤncket, ſo bringet es der herſch-
ſuͤchtigen Frau eben ſo wenig Ehre als dem ge-
horſamen Manne! Wie kann ein ſolcher Mann
einer vernuͤnftigen Frauen ertraͤglich ſeyn, wenn
ſie auch aus Abſicht auf ihren Vortheil ihn ſelbſt
gewaͤhlet haͤtte? Allein, wenn man gar gezwun-
gen, und noch dazu aus ſolchen Urſachen, deren
ſich der zwingende und der leidende Theil ſchaͤ-
men muͤſſen, gezwungen wird einenſolchen Mann
zu nehmen; ſo iſt es gantz ohnmoͤglich, einen ſo
gerechten Widerwillen zu uͤberwinden. Wie viel
leichter iſt es mir, die uͤberhingehenden Widrig-
keiten zu ertragen, die ich jetzt auszuſtehen habe,
als mein gantzes Leben einem ſolchen Manne auf-
zuopfern! Wenn ich mich bequemen wollte, ſo
muͤſte ich die Geſellſchaft der Meinigen verlaſſen,
und mich mit ſeinem Umgange befriedigen. Ein
eintziger betruͤbter Monath ſteht mir etwan be-
vor, wenn ich auf der abſchlaͤgigen Antwort be-
harre: allein wenn ich Ja ſage, ſo ſehe ich ein
gantzes Leben voll Wehe und Ungluͤck vor mir;

und
G 4
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0109" n="103"/><lb/>
          <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b"><hi rendition="#g">der Clari&#x017F;&#x017F;a</hi>.</hi> </fw><lb/>
          <p>ein edles und offenes Hertz, da ihm Men&#x017F;chen-<lb/>
Liebe, gute Sitten, und alles das, was einen<lb/>
Mann macht, ga&#x0364;ntzlich mangelt. Wie viel Ge-<lb/>
duld, wie viel Großmuth mu&#x0364;ßte ein Frauenzim-<lb/>
mer haben, wenn &#x017F;ie ihren Mann nicht verach-<lb/>
ten &#x017F;ollte, der noch unwi&#x017F;&#x017F;ender, noch unbele&#x017F;ener,<lb/>
und noch niedertra&#x0364;chtiger wa&#x0364;re, als &#x017F;ie &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
&#x017F;cha&#x0364;tzen kan? Der elende Tropf &#x017F;oll Herr im<lb/>
Hau&#x017F;e hei&#x017F;&#x017F;en, und hat das Recht, das Haupt<lb/>
der gantzen Familie zu &#x017F;eyn! Wenn die Frau<lb/>
&#x017F;eine Rechte kra&#x0364;ncket, &#x017F;o bringet es der her&#x017F;ch-<lb/>
&#x017F;u&#x0364;chtigen Frau eben &#x017F;o wenig Ehre als dem ge-<lb/>
hor&#x017F;amen Manne! Wie kann ein &#x017F;olcher Mann<lb/>
einer vernu&#x0364;nftigen Frauen ertra&#x0364;glich &#x017F;eyn, wenn<lb/>
&#x017F;ie auch aus Ab&#x017F;icht auf ihren Vortheil ihn &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
gewa&#x0364;hlet ha&#x0364;tte? Allein, wenn man gar gezwun-<lb/>
gen, und noch dazu aus &#x017F;olchen Ur&#x017F;achen, deren<lb/>
&#x017F;ich der zwingende und der leidende Theil &#x017F;cha&#x0364;-<lb/>
men mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en, gezwungen wird einen&#x017F;olchen Mann<lb/>
zu nehmen; &#x017F;o i&#x017F;t es gantz ohnmo&#x0364;glich, einen &#x017F;o<lb/>
gerechten Widerwillen zu u&#x0364;berwinden. Wie viel<lb/>
leichter i&#x017F;t es mir, die u&#x0364;berhingehenden Widrig-<lb/>
keiten zu ertragen, die ich jetzt auszu&#x017F;tehen habe,<lb/>
als mein gantzes Leben einem &#x017F;olchen Manne auf-<lb/>
zuopfern! Wenn ich mich bequemen wollte, &#x017F;o<lb/>
mu&#x0364;&#x017F;te ich die Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft der Meinigen verla&#x017F;&#x017F;en,<lb/>
und mich mit &#x017F;einem Umgange befriedigen. Ein<lb/>
eintziger betru&#x0364;bter Monath &#x017F;teht mir etwan be-<lb/>
vor, wenn ich auf der ab&#x017F;chla&#x0364;gigen Antwort be-<lb/>
harre: allein wenn ich <hi rendition="#fr">Ja</hi> &#x017F;age, &#x017F;o &#x017F;ehe ich ein<lb/>
gantzes Leben voll Wehe und Unglu&#x0364;ck vor mir;<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">G 4</fw><fw place="bottom" type="catch">und</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[103/0109] der Clariſſa. ein edles und offenes Hertz, da ihm Menſchen- Liebe, gute Sitten, und alles das, was einen Mann macht, gaͤntzlich mangelt. Wie viel Ge- duld, wie viel Großmuth muͤßte ein Frauenzim- mer haben, wenn ſie ihren Mann nicht verach- ten ſollte, der noch unwiſſender, noch unbeleſener, und noch niedertraͤchtiger waͤre, als ſie ſich ſelbſt ſchaͤtzen kan? Der elende Tropf ſoll Herr im Hauſe heiſſen, und hat das Recht, das Haupt der gantzen Familie zu ſeyn! Wenn die Frau ſeine Rechte kraͤncket, ſo bringet es der herſch- ſuͤchtigen Frau eben ſo wenig Ehre als dem ge- horſamen Manne! Wie kann ein ſolcher Mann einer vernuͤnftigen Frauen ertraͤglich ſeyn, wenn ſie auch aus Abſicht auf ihren Vortheil ihn ſelbſt gewaͤhlet haͤtte? Allein, wenn man gar gezwun- gen, und noch dazu aus ſolchen Urſachen, deren ſich der zwingende und der leidende Theil ſchaͤ- men muͤſſen, gezwungen wird einenſolchen Mann zu nehmen; ſo iſt es gantz ohnmoͤglich, einen ſo gerechten Widerwillen zu uͤberwinden. Wie viel leichter iſt es mir, die uͤberhingehenden Widrig- keiten zu ertragen, die ich jetzt auszuſtehen habe, als mein gantzes Leben einem ſolchen Manne auf- zuopfern! Wenn ich mich bequemen wollte, ſo muͤſte ich die Geſellſchaft der Meinigen verlaſſen, und mich mit ſeinem Umgange befriedigen. Ein eintziger betruͤbter Monath ſteht mir etwan be- vor, wenn ich auf der abſchlaͤgigen Antwort be- harre: allein wenn ich Ja ſage, ſo ſehe ich ein gantzes Leben voll Wehe und Ungluͤck vor mir; und G 4

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa02_1748
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa02_1748/109
Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 2. Göttingen, 1748, S. 103. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa02_1748/109>, abgerufen am 17.09.2024.