Ob ich gleich drey Wochen abwesend gewe- sen war, so war doch der Willkommen so ver- schieden von demjenigen, den ich mir sonst nach ei- ner jeden kleinen Reise versprechen konnte, daß ich schon zum voraus merckte, ich würde für die ver- gnügte Zeit büssen müssen, die ich in Jhrem Um- gange gehabt habe. Jch will Jhnen kurtz die Umstände erzehlen.
Mein Bruder kam mir entgegen, und bot mir die Hand, als ich aus dem Wagen stieg. Er bückte sich recht tief, und sagte: mit Erlaubniß/ Fräulein! Jch meynte daß er eben gut aufge- räumt wäre, fand aber bald, daß er meiner mit Höflichkeiten spotten wollte. Und so führte er mich recht förmlich. Jch plauderte unterweges, und erkundigte mich nach eines jeden Befinden, den ich selbst zu sehen bekommen muste, ehe er mir antworten konnte. Jn dem grossen Saal fand ich meinen Vater und Mutter, meine beyden Va- ters Brüder und meine Schwester.
Jch ward gleich bey meinem Eintritt bestürtzt, daß alle meine werthesten Angehörigen sich so un- gewöhnlich fremde bezeigeten. Sie blieben insge- samt sitzen. Jch lief zu meinem Vater und kniete vor ihm nieder: nachher zu meiner Mutter. Von beyden bekam ich einen kalten Kuß. Mein Vater sagte mit halb ausgesprochenen Worten: GOtt segne dich meine Tochter. Meine Mut- ter nennete mich zwar Kind! aber sie umar- mete mich nicht mit der gewöhnlichen Zärtlich- keit.
Jch
Die Geſchichte
Ob ich gleich drey Wochen abweſend gewe- ſen war, ſo war doch der Willkommen ſo ver- ſchieden von demjenigen, den ich mir ſonſt nach ei- ner jeden kleinen Reiſe verſprechen konnte, daß ich ſchon zum voraus merckte, ich wuͤrde fuͤr die ver- gnuͤgte Zeit buͤſſen muͤſſen, die ich in Jhrem Um- gange gehabt habe. Jch will Jhnen kurtz die Umſtaͤnde erzehlen.
Mein Bruder kam mir entgegen, und bot mir die Hand, als ich aus dem Wagen ſtieg. Er buͤckte ſich recht tief, und ſagte: mit Erlaubniß/ Fraͤulein! Jch meynte daß er eben gut aufge- raͤumt waͤre, fand aber bald, daß er meiner mit Hoͤflichkeiten ſpotten wollte. Und ſo fuͤhrte er mich recht foͤrmlich. Jch plauderte unterweges, und erkundigte mich nach eines jeden Befinden, den ich ſelbſt zu ſehen bekommen muſte, ehe er mir antworten konnte. Jn dem groſſen Saal fand ich meinen Vater und Mutter, meine beyden Va- ters Bruͤder und meine Schweſter.
Jch ward gleich bey meinem Eintritt beſtuͤrtzt, daß alle meine wertheſten Angehoͤrigen ſich ſo un- gewoͤhnlich fremde bezeigeten. Sie blieben insge- ſamt ſitzen. Jch lief zu meinem Vater und kniete vor ihm nieder: nachher zu meiner Mutter. Von beyden bekam ich einen kalten Kuß. Mein Vater ſagte mit halb ausgeſprochenen Worten: GOtt ſegne dich meine Tochter. Meine Mut- ter nennete mich zwar Kind! aber ſie umar- mete mich nicht mit der gewoͤhnlichen Zaͤrtlich- keit.
Jch
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Die Geſchichte
Ob ich gleich drey Wochen abweſend gewe-
ſen war, ſo war doch der Willkommen ſo ver-
ſchieden von demjenigen, den ich mir ſonſt nach ei-
ner jeden kleinen Reiſe verſprechen konnte, daß ich
ſchon zum voraus merckte, ich wuͤrde fuͤr die ver-
gnuͤgte Zeit buͤſſen muͤſſen, die ich in Jhrem Um-
gange gehabt habe. Jch will Jhnen kurtz die
Umſtaͤnde erzehlen.
Mein Bruder kam mir entgegen, und bot mir
die Hand, als ich aus dem Wagen ſtieg. Er
buͤckte ſich recht tief, und ſagte: mit Erlaubniß/
Fraͤulein! Jch meynte daß er eben gut aufge-
raͤumt waͤre, fand aber bald, daß er meiner mit
Hoͤflichkeiten ſpotten wollte. Und ſo fuͤhrte er
mich recht foͤrmlich. Jch plauderte unterweges,
und erkundigte mich nach eines jeden Befinden,
den ich ſelbſt zu ſehen bekommen muſte, ehe er mir
antworten konnte. Jn dem groſſen Saal fand
ich meinen Vater und Mutter, meine beyden Va-
ters Bruͤder und meine Schweſter.
Jch ward gleich bey meinem Eintritt beſtuͤrtzt,
daß alle meine wertheſten Angehoͤrigen ſich ſo un-
gewoͤhnlich fremde bezeigeten. Sie blieben insge-
ſamt ſitzen. Jch lief zu meinem Vater und kniete
vor ihm nieder: nachher zu meiner Mutter. Von
beyden bekam ich einen kalten Kuß. Mein Vater
ſagte mit halb ausgeſprochenen Worten: GOtt
ſegne dich meine Tochter. Meine Mut-
ter nennete mich zwar Kind! aber ſie umar-
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 1. Göttingen, 1748, S. 62. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa01_1748/82>, abgerufen am 27.11.2024.
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