bey dem einen Besuch glaubten ihn gantz ausge- forschet zu haben, so mußten wir das nächstemahl unsere Mühe für verlohren ansehen. Dieses gehört gewiß mit zu seiner schwartzen Seite. Sie sind in der Haupt-Sache in sofern auf seiner Seite gewe- sen, daß Sie eine allzugrosse Freymüthigkeit für seinen Haupt-Fehler ausgegeben haben, nebst ei- ner allzugrossen Nachläßigkeit seinen guten Nah- men zu erhalten, und einer Leichtsinnigkeit, die ihn verhindert versteckt zu seyn. Sie glaubten, daß sein Hertz um die Zeit gut sey, wenn er etwas gu- tes redet: alleine seine Leichtsinnigkeit und Verän- derlichkeit hätten den Grund in seiner Leibes-Be- schaffenheit und guten Gesundheit, und in einer Seele, die sich zu so einem Leibe unvergleichlich schickte und vollkommen mit ihm zufrieden sey. Sie machten hieraus den Schluß, wenn nur diese Ue- bereinstimmung des Leibes und der Seelen eine gute Richtung bekommen könnte, d. i. wenn seine Lebhaftigkeit nur durch die Sitten-Lehre einge- schränckt würde; so würde man in seiner Ge- sellschaft das Leben vergnügt zubringen können.
Jch habe oft geantwortet, und ich bin noch jetzt der Meinung, daß er nicht das gute Hertz hat, das er haben sollte: und wenn ihm dieses mangelt, so mangelt ihm alles. Fehler, die bloß Jrrthü- mer des Kopfes sind, können gebessert werden: allein wer kann ein bessers Hertz geben, wenn es dar- an fehlet? Bloß eine solche göttliche Gnade, die ei- nem Wunderwercke sehr nahe kommt, kann ein böses Hertz ändern. Sollte man nicht billig vor dem
Manne
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der Clariſſa.
bey dem einen Beſuch glaubten ihn gantz ausge- forſchet zu haben, ſo mußten wir das naͤchſtemahl unſere Muͤhe fuͤr verlohren anſehen. Dieſes gehoͤrt gewiß mit zu ſeiner ſchwartzen Seite. Sie ſind in der Haupt-Sache in ſofern auf ſeiner Seite gewe- ſen, daß Sie eine allzugroſſe Freymuͤthigkeit fuͤr ſeinen Haupt-Fehler ausgegeben haben, nebſt ei- ner allzugroſſen Nachlaͤßigkeit ſeinen guten Nah- men zu erhalten, und einer Leichtſinnigkeit, die ihn verhindert verſteckt zu ſeyn. Sie glaubten, daß ſein Hertz um die Zeit gut ſey, wenn er etwas gu- tes redet: alleine ſeine Leichtſinnigkeit und Veraͤn- derlichkeit haͤtten den Grund in ſeiner Leibes-Be- ſchaffenheit und guten Geſundheit, und in einer Seele, die ſich zu ſo einem Leibe unvergleichlich ſchickte und vollkommen mit ihm zufrieden ſey. Sie machten hieraus den Schluß, wenn nur dieſe Ue- bereinſtimmung des Leibes und der Seelen eine gute Richtung bekommen koͤnnte, d. i. wenn ſeine Lebhaftigkeit nur durch die Sitten-Lehre einge- ſchraͤnckt wuͤrde; ſo wuͤrde man in ſeiner Ge- ſellſchaft das Leben vergnuͤgt zubringen koͤnnen.
Jch habe oft geantwortet, und ich bin noch jetzt der Meinung, daß er nicht das gute Hertz hat, das er haben ſollte: und wenn ihm dieſes mangelt, ſo mangelt ihm alles. Fehler, die bloß Jrrthuͤ- mer des Kopfes ſind, koͤnnen gebeſſert werden: allein wer kann ein beſſers Hertz geben, weñ es dar- an fehlet? Bloß eine ſolche goͤttliche Gnade, die ei- nem Wunderwercke ſehr nahe kommt, kann ein boͤſes Hertz aͤndern. Sollte man nicht billig vor dem
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der Clariſſa.
bey dem einen Beſuch glaubten ihn gantz ausge-
forſchet zu haben, ſo mußten wir das naͤchſtemahl
unſere Muͤhe fuͤr verlohren anſehen. Dieſes gehoͤrt
gewiß mit zu ſeiner ſchwartzen Seite. Sie ſind in
der Haupt-Sache in ſofern auf ſeiner Seite gewe-
ſen, daß Sie eine allzugroſſe Freymuͤthigkeit fuͤr
ſeinen Haupt-Fehler ausgegeben haben, nebſt ei-
ner allzugroſſen Nachlaͤßigkeit ſeinen guten Nah-
men zu erhalten, und einer Leichtſinnigkeit, die ihn
verhindert verſteckt zu ſeyn. Sie glaubten, daß
ſein Hertz um die Zeit gut ſey, wenn er etwas gu-
tes redet: alleine ſeine Leichtſinnigkeit und Veraͤn-
derlichkeit haͤtten den Grund in ſeiner Leibes-Be-
ſchaffenheit und guten Geſundheit, und in einer
Seele, die ſich zu ſo einem Leibe unvergleichlich
ſchickte und vollkommen mit ihm zufrieden ſey. Sie
machten hieraus den Schluß, wenn nur dieſe Ue-
bereinſtimmung des Leibes und der Seelen eine
gute Richtung bekommen koͤnnte, d. i. wenn ſeine
Lebhaftigkeit nur durch die Sitten-Lehre einge-
ſchraͤnckt wuͤrde; ſo wuͤrde man in ſeiner Ge-
ſellſchaft das Leben vergnuͤgt zubringen koͤnnen.
Jch habe oft geantwortet, und ich bin noch jetzt
der Meinung, daß er nicht das gute Hertz hat,
das er haben ſollte: und wenn ihm dieſes mangelt,
ſo mangelt ihm alles. Fehler, die bloß Jrrthuͤ-
mer des Kopfes ſind, koͤnnen gebeſſert werden:
allein wer kann ein beſſers Hertz geben, weñ es dar-
an fehlet? Bloß eine ſolche goͤttliche Gnade, die ei-
nem Wunderwercke ſehr nahe kommt, kann ein
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 1. Göttingen, 1748, S. 455. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa01_1748/475>, abgerufen am 29.06.2024.
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