her erzogen zu haben. Es kan also durch glaub- würdige Zeugen bewiesen werden, daß sie nicht vom Himmel kam, und nicht gleich ein Engel ge- wesen ist. Wie kommt es denn, daß sie so un- überwindlich, so unerforschlich ist?
Hier steckt der Jrrthum, den sie sich nicht will be- nehmen lassen. Sie glaubt, daß der Mensch, den sie ihren Vater nennet, (an der Mutter wäre nichts auszusetzen, wenn sie ihn nicht genommen hätte,) daß die Leute, die sie Onckels nennet, daß der Kerl, den sie ihren Bruder nennet, daß das arme verächt- liche Gemächte, das sie ihre Schwester nennet, in der That ihr Vater, ihre Onckels, ihr Bruder und ihre Schwester sind, und daß sie ihnen Gehorsam, Ehrerbietung oder Liebe schuldig ist, sie mögen auch mit ihr umgehen, wie sie wollen. Pöbelhafte Ban- de! Lauter Aberglauben, der sich noch von der Wie- ge herschreibet! Denn wenn nicht die Natur ihr diese Anverwandten zur unglücklichen Stunde ge- geben hätte, oder wenn sie selbst ihre Freunde hätte wählen können, so frage ich dich, ob wohl einer von diesen Leuten mit ihr verwandt seyn würde?
Wie empöret sich mein Hertz, wenn ich daran dencke, daß sie solche Leute mir vorziehen kan, son- derlich nachdem sie weiß, daß mir von ihnen Unrecht geschehen ist! Sie weiß, daß eine solche Verbindung eine Ehre für die gantze Familie seyn müste, sich selbst allein ausgenommen: denn ihr ist jedermann Verehrung schuldig, und ein fürst- liches Geschlecht würde durch sie geehret werden. Und wie sehr wird sich mein Hertz empören, wenn
ich
der Clariſſa.
her erzogen zu haben. Es kan alſo durch glaub- wuͤrdige Zeugen bewieſen werden, daß ſie nicht vom Himmel kam, und nicht gleich ein Engel ge- weſen iſt. Wie kommt es denn, daß ſie ſo un- uͤberwindlich, ſo unerforſchlich iſt?
Hier ſteckt der Jrrthum, den ſie ſich nicht will be- nehmen laſſen. Sie glaubt, daß der Menſch, den ſie ihren Vater nennet, (an der Mutter waͤre nichts auszuſetzen, wenn ſie ihn nicht genommen haͤtte,) daß die Leute, die ſie Onckels nennet, daß der Kerl, den ſie ihren Bruder nennet, daß das arme veraͤcht- liche Gemaͤchte, das ſie ihre Schweſter nennet, in der That ihr Vater, ihre Onckels, ihr Bruder und ihre Schweſter ſind, und daß ſie ihnen Gehorſam, Ehrerbietung oder Liebe ſchuldig iſt, ſie moͤgen auch mit ihr umgehen, wie ſie wollen. Poͤbelhafte Ban- de! Lauter Aberglauben, der ſich noch von der Wie- ge herſchreibet! Denn wenn nicht die Natur ihr dieſe Anverwandten zur ungluͤcklichen Stunde ge- geben haͤtte, oder wenn ſie ſelbſt ihre Freunde haͤtte waͤhlen koͤnnen, ſo frage ich dich, ob wohl einer von dieſen Leuten mit ihr verwandt ſeyn wuͤrde?
Wie empoͤret ſich mein Hertz, wenn ich daran dencke, daß ſie ſolche Leute mir vorziehen kan, ſon- derlich nachdem ſie weiß, daß mir von ihnen Unrecht geſchehen iſt! Sie weiß, daß eine ſolche Verbindung eine Ehre fuͤr die gantze Familie ſeyn muͤſte, ſich ſelbſt allein ausgenommen: denn ihr iſt jedermann Verehrung ſchuldig, und ein fuͤrſt- liches Geſchlecht wuͤrde durch ſie geehret werden. Und wie ſehr wird ſich mein Hertz empoͤren, wenn
ich
<TEI><text><body><divn="2"><divn="2"><p><pbfacs="#f0353"n="333"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b"><hirendition="#g">der Clariſſa.</hi></hi></fw><lb/>
her erzogen zu haben. Es kan alſo durch glaub-<lb/>
wuͤrdige Zeugen bewieſen werden, daß ſie nicht<lb/>
vom Himmel kam, und nicht gleich ein Engel ge-<lb/>
weſen iſt. Wie kommt es denn, daß ſie ſo un-<lb/>
uͤberwindlich, ſo unerforſchlich iſt?</p><lb/><p>Hier ſteckt der Jrrthum, den ſie ſich nicht will be-<lb/>
nehmen laſſen. Sie glaubt, daß der Menſch, den<lb/>ſie ihren Vater nennet, (an der Mutter waͤre nichts<lb/>
auszuſetzen, wenn ſie ihn nicht genommen haͤtte,)<lb/>
daß die Leute, die ſie Onckels nennet, daß der Kerl,<lb/>
den ſie ihren Bruder nennet, daß das arme veraͤcht-<lb/>
liche Gemaͤchte, das ſie ihre Schweſter nennet, in<lb/>
der That ihr Vater, ihre Onckels, ihr Bruder und<lb/>
ihre Schweſter ſind, und daß ſie ihnen Gehorſam,<lb/>
Ehrerbietung oder Liebe ſchuldig iſt, ſie moͤgen auch<lb/>
mit ihr umgehen, wie ſie wollen. Poͤbelhafte Ban-<lb/>
de! Lauter Aberglauben, der ſich noch von der Wie-<lb/>
ge herſchreibet! Denn wenn nicht die Natur ihr<lb/>
dieſe Anverwandten zur ungluͤcklichen Stunde ge-<lb/>
geben haͤtte, oder wenn ſie ſelbſt ihre Freunde haͤtte<lb/>
waͤhlen koͤnnen, ſo frage ich dich, ob wohl einer von<lb/>
dieſen Leuten mit ihr verwandt ſeyn wuͤrde?</p><lb/><p>Wie empoͤret ſich mein Hertz, wenn ich daran<lb/>
dencke, daß ſie ſolche Leute mir vorziehen kan, ſon-<lb/>
derlich nachdem ſie weiß, daß mir von ihnen<lb/>
Unrecht geſchehen iſt! Sie weiß, daß eine ſolche<lb/>
Verbindung eine Ehre fuͤr die gantze Familie ſeyn<lb/>
muͤſte, ſich ſelbſt allein ausgenommen: denn ihr<lb/>
iſt jedermann Verehrung ſchuldig, und ein fuͤrſt-<lb/>
liches Geſchlecht wuͤrde durch ſie geehret werden.<lb/>
Und wie ſehr wird ſich mein Hertz empoͤren, wenn<lb/><fwplace="bottom"type="catch">ich</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[333/0353]
der Clariſſa.
her erzogen zu haben. Es kan alſo durch glaub-
wuͤrdige Zeugen bewieſen werden, daß ſie nicht
vom Himmel kam, und nicht gleich ein Engel ge-
weſen iſt. Wie kommt es denn, daß ſie ſo un-
uͤberwindlich, ſo unerforſchlich iſt?
Hier ſteckt der Jrrthum, den ſie ſich nicht will be-
nehmen laſſen. Sie glaubt, daß der Menſch, den
ſie ihren Vater nennet, (an der Mutter waͤre nichts
auszuſetzen, wenn ſie ihn nicht genommen haͤtte,)
daß die Leute, die ſie Onckels nennet, daß der Kerl,
den ſie ihren Bruder nennet, daß das arme veraͤcht-
liche Gemaͤchte, das ſie ihre Schweſter nennet, in
der That ihr Vater, ihre Onckels, ihr Bruder und
ihre Schweſter ſind, und daß ſie ihnen Gehorſam,
Ehrerbietung oder Liebe ſchuldig iſt, ſie moͤgen auch
mit ihr umgehen, wie ſie wollen. Poͤbelhafte Ban-
de! Lauter Aberglauben, der ſich noch von der Wie-
ge herſchreibet! Denn wenn nicht die Natur ihr
dieſe Anverwandten zur ungluͤcklichen Stunde ge-
geben haͤtte, oder wenn ſie ſelbſt ihre Freunde haͤtte
waͤhlen koͤnnen, ſo frage ich dich, ob wohl einer von
dieſen Leuten mit ihr verwandt ſeyn wuͤrde?
Wie empoͤret ſich mein Hertz, wenn ich daran
dencke, daß ſie ſolche Leute mir vorziehen kan, ſon-
derlich nachdem ſie weiß, daß mir von ihnen
Unrecht geſchehen iſt! Sie weiß, daß eine ſolche
Verbindung eine Ehre fuͤr die gantze Familie ſeyn
muͤſte, ſich ſelbſt allein ausgenommen: denn ihr
iſt jedermann Verehrung ſchuldig, und ein fuͤrſt-
liches Geſchlecht wuͤrde durch ſie geehret werden.
Und wie ſehr wird ſich mein Hertz empoͤren, wenn
ich
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 1. Göttingen, 1748, S. 333. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa01_1748/353>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.