Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 1. Göttingen, 1748.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Geschichte
ersten Jahre seines Lebens nichts gethan als
Schreyen, und seine Muskeln sind des Heulens
so gewohnt geworden, daß sie den Mund nicht
zum Lachen ziehen können. Selbst sein Lächeln
(das Sie nie gesehen, und zum wenigsten nie ver-
anlasset haben) ist seiner Gesichts-Bildung so
fremde und unnatürlich, daß es ihn fast kleidet,
als wenn einer aus bösem Muthe lachet.

Jch war sehr aufmercksam auf ihn, wie ich auf
alle solche Wunder-Thiere zu seyn pflege: und er
kam mir schon damals eckelhaft und unerträglich
vor. Jch erinnere mich noch, daß ich recht froh
war, als sein Lachen aufhörte, und sein Gesicht
sich wieder in die vorigen verdrieslichen Falten
legte; wiewohl dieses so langsam geschahe, als
wenn die Muskeln, die die Gesichts-Verzerrung
veranlasset hatten, durch lauter verrostete Trieb-
Federn beweget würden.

Was für eine fürchterliche Sache muß selbst
die Liebe eines solchen Mannes seyn? Wenn ich
seine Frau wäre (was habe ich aber gesündiget,
daß ich mir zur Züchtigung nur einen solchen mög-
lichen Fall erdencke) so würde ich kein anderes
Vergnügen haben, als daß er abwesend wäre,
oder daß ich mich mit ihm zanckete. Ein me-
lancholisches
Frauenzimmer, das nicht leben
kan ohne auf jemand zu keiffen, möchte mit ihm
vergnügt leben können: denn jeder Anblick würde
ihr Gelegenheit geben, sich über ihn zu ereifern,
und die Bedienten würden Ursache haben, ihren
Herrn in ihrem Hertzen dafür zu segnen, daß er

ihr

Die Geſchichte
erſten Jahre ſeines Lebens nichts gethan als
Schreyen, und ſeine Muskeln ſind des Heulens
ſo gewohnt geworden, daß ſie den Mund nicht
zum Lachen ziehen koͤnnen. Selbſt ſein Laͤcheln
(das Sie nie geſehen, und zum wenigſten nie ver-
anlaſſet haben) iſt ſeiner Geſichts-Bildung ſo
fremde und unnatuͤrlich, daß es ihn faſt kleidet,
als wenn einer aus boͤſem Muthe lachet.

Jch war ſehr aufmerckſam auf ihn, wie ich auf
alle ſolche Wunder-Thiere zu ſeyn pflege: und er
kam mir ſchon damals eckelhaft und unertraͤglich
vor. Jch erinnere mich noch, daß ich recht froh
war, als ſein Lachen aufhoͤrte, und ſein Geſicht
ſich wieder in die vorigen verdrieslichen Falten
legte; wiewohl dieſes ſo langſam geſchahe, als
wenn die Muskeln, die die Geſichts-Verzerrung
veranlaſſet hatten, durch lauter verroſtete Trieb-
Federn beweget wuͤrden.

Was fuͤr eine fuͤrchterliche Sache muß ſelbſt
die Liebe eines ſolchen Mannes ſeyn? Wenn ich
ſeine Frau waͤre (was habe ich aber geſuͤndiget,
daß ich mir zur Zuͤchtigung nur einen ſolchen moͤg-
lichen Fall erdencke) ſo wuͤrde ich kein anderes
Vergnuͤgen haben, als daß er abweſend waͤre,
oder daß ich mich mit ihm zanckete. Ein me-
lancholiſches
Frauenzimmer, das nicht leben
kan ohne auf jemand zu keiffen, moͤchte mit ihm
vergnuͤgt leben koͤnnen: denn jeder Anblick wuͤrde
ihr Gelegenheit geben, ſich uͤber ihn zu ereifern,
und die Bedienten wuͤrden Urſache haben, ihren
Herrn in ihrem Hertzen dafuͤr zu ſegnen, daß er

ihr
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="2">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0304" n="284"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Die Ge&#x017F;chichte</hi></hi></fw><lb/>
er&#x017F;ten Jahre &#x017F;eines Lebens nichts gethan als<lb/>
Schreyen, und &#x017F;eine Muskeln &#x017F;ind des Heulens<lb/>
&#x017F;o gewohnt geworden, daß &#x017F;ie den Mund nicht<lb/>
zum Lachen ziehen ko&#x0364;nnen. Selb&#x017F;t &#x017F;ein La&#x0364;cheln<lb/>
(das Sie nie ge&#x017F;ehen, und zum wenig&#x017F;ten nie ver-<lb/>
anla&#x017F;&#x017F;et haben) i&#x017F;t &#x017F;einer Ge&#x017F;ichts-Bildung &#x017F;o<lb/>
fremde und unnatu&#x0364;rlich, daß es ihn fa&#x017F;t kleidet,<lb/>
als wenn einer aus bo&#x0364;&#x017F;em Muthe lachet.</p><lb/>
          <p>Jch war &#x017F;ehr aufmerck&#x017F;am auf ihn, wie ich auf<lb/>
alle &#x017F;olche Wunder-Thiere zu &#x017F;eyn pflege: und er<lb/>
kam mir &#x017F;chon damals eckelhaft und unertra&#x0364;glich<lb/>
vor. Jch erinnere mich noch, daß ich recht froh<lb/>
war, als &#x017F;ein Lachen aufho&#x0364;rte, und &#x017F;ein Ge&#x017F;icht<lb/>
&#x017F;ich wieder in die vorigen verdrieslichen Falten<lb/>
legte; wiewohl die&#x017F;es &#x017F;o lang&#x017F;am ge&#x017F;chahe, als<lb/>
wenn die Muskeln, die die Ge&#x017F;ichts-Verzerrung<lb/>
veranla&#x017F;&#x017F;et hatten, durch lauter verro&#x017F;tete Trieb-<lb/>
Federn beweget wu&#x0364;rden.</p><lb/>
          <p>Was fu&#x0364;r eine fu&#x0364;rchterliche Sache muß &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
die Liebe eines &#x017F;olchen Mannes &#x017F;eyn? Wenn ich<lb/>
&#x017F;eine Frau wa&#x0364;re (was habe ich aber ge&#x017F;u&#x0364;ndiget,<lb/>
daß ich mir zur Zu&#x0364;chtigung nur einen &#x017F;olchen mo&#x0364;g-<lb/>
lichen Fall erdencke) &#x017F;o wu&#x0364;rde ich kein anderes<lb/>
Vergnu&#x0364;gen haben, als daß er abwe&#x017F;end wa&#x0364;re,<lb/>
oder daß ich mich mit ihm zanckete. Ein <hi rendition="#fr">me-<lb/>
lancholi&#x017F;ches</hi> Frauenzimmer, das nicht leben<lb/>
kan ohne auf jemand zu keiffen, mo&#x0364;chte mit ihm<lb/>
vergnu&#x0364;gt leben ko&#x0364;nnen: denn jeder Anblick wu&#x0364;rde<lb/>
ihr Gelegenheit geben, &#x017F;ich u&#x0364;ber ihn zu ereifern,<lb/>
und die Bedienten wu&#x0364;rden Ur&#x017F;ache haben, ihren<lb/>
Herrn in ihrem Hertzen dafu&#x0364;r zu &#x017F;egnen, daß er<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">ihr</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[284/0304] Die Geſchichte erſten Jahre ſeines Lebens nichts gethan als Schreyen, und ſeine Muskeln ſind des Heulens ſo gewohnt geworden, daß ſie den Mund nicht zum Lachen ziehen koͤnnen. Selbſt ſein Laͤcheln (das Sie nie geſehen, und zum wenigſten nie ver- anlaſſet haben) iſt ſeiner Geſichts-Bildung ſo fremde und unnatuͤrlich, daß es ihn faſt kleidet, als wenn einer aus boͤſem Muthe lachet. Jch war ſehr aufmerckſam auf ihn, wie ich auf alle ſolche Wunder-Thiere zu ſeyn pflege: und er kam mir ſchon damals eckelhaft und unertraͤglich vor. Jch erinnere mich noch, daß ich recht froh war, als ſein Lachen aufhoͤrte, und ſein Geſicht ſich wieder in die vorigen verdrieslichen Falten legte; wiewohl dieſes ſo langſam geſchahe, als wenn die Muskeln, die die Geſichts-Verzerrung veranlaſſet hatten, durch lauter verroſtete Trieb- Federn beweget wuͤrden. Was fuͤr eine fuͤrchterliche Sache muß ſelbſt die Liebe eines ſolchen Mannes ſeyn? Wenn ich ſeine Frau waͤre (was habe ich aber geſuͤndiget, daß ich mir zur Zuͤchtigung nur einen ſolchen moͤg- lichen Fall erdencke) ſo wuͤrde ich kein anderes Vergnuͤgen haben, als daß er abweſend waͤre, oder daß ich mich mit ihm zanckete. Ein me- lancholiſches Frauenzimmer, das nicht leben kan ohne auf jemand zu keiffen, moͤchte mit ihm vergnuͤgt leben koͤnnen: denn jeder Anblick wuͤrde ihr Gelegenheit geben, ſich uͤber ihn zu ereifern, und die Bedienten wuͤrden Urſache haben, ihren Herrn in ihrem Hertzen dafuͤr zu ſegnen, daß er ihr

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa01_1748
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa01_1748/304
Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 1. Göttingen, 1748, S. 284. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa01_1748/304>, abgerufen am 22.11.2024.