Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 1. Göttingen, 1748.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Geschichte
aber schonst sonst geschrieben, daß ich nicht blos
meiner Mutter Art an mir habe, sondern daß sich
auch meines Vaters Blut in mir reget. Gewiß
wenn ich auf das Acht gebe, was in unserm Hau-
se vorgehet, so macht es mir wenig Lust, meiner
Mutter in ihrer Sanfftmurh und Verleugnung
auf eine blinde Weise nachzufolgen. Hat sie mir
nicht selbst gestehen müssen, daß es ihr bescheert
sey, daß sie sich immer Unrecht geben und tra-
gen muß, was ihr andere auflegen. Bey mei-
ner Mutter wird das wahr, was Sie zu sagen
pflegen: weil sie viel dulden kan, so muß sie
auch viel dulden. Was kan man erdencken (sie
selbst gesteht es) daß sie nicht aufgeopfert hat, um
Frieden zu erhalten? Hat sie aber durch so viele
Opfer diejenige Ruhe und Zufriedenheit, die sie
doch so sehr verdient, erkauffen können? Nichts
weniger: ich fürchte vielmehr, daß Mißvergnü-
gen und Unruhe ihr Lohn gewesen ist. Wie oft
hat sie mir Gelegenheit gegeben, die Anmerckung
zu machen, daß wir armen Menschen durch un-
sere übermäßige Bemühung, unsere natürliche
Gemüths-Fassung ungestört zu behalten, das-
jenige verlieren, was eben die Frucht und das
angenehme davon seyn sollte. Denn wer eine
Absicht gegen uns hat, der merckt unsere Schwach-
heit aus, und giebt auf desjenige Acht, wofür
wir alles andre aufopfern wollen: er bestürmet
uns von dieser schwachen Seite, und gebraucht
unsere Hoffnung und Furcht als Waffen gegen
uns, dadurch er uns gewiß überwältigen kan.

Mein

Die Geſchichte
aber ſchonſt ſonſt geſchrieben, daß ich nicht blos
meiner Mutter Art an mir habe, ſondern daß ſich
auch meines Vaters Blut in mir reget. Gewiß
wenn ich auf das Acht gebe, was in unſerm Hau-
ſe vorgehet, ſo macht es mir wenig Luſt, meiner
Mutter in ihrer Sanfftmurh und Verleugnung
auf eine blinde Weiſe nachzufolgen. Hat ſie mir
nicht ſelbſt geſtehen muͤſſen, daß es ihr beſcheert
ſey, daß ſie ſich immer Unrecht geben und tra-
gen muß, was ihr andere auflegen. Bey mei-
ner Mutter wird das wahr, was Sie zu ſagen
pflegen: weil ſie viel dulden kan, ſo muß ſie
auch viel dulden. Was kan man erdencken (ſie
ſelbſt geſteht es) daß ſie nicht aufgeopfert hat, um
Frieden zu erhalten? Hat ſie aber durch ſo viele
Opfer diejenige Ruhe und Zufriedenheit, die ſie
doch ſo ſehr verdient, erkauffen koͤnnen? Nichts
weniger: ich fuͤrchte vielmehr, daß Mißvergnuͤ-
gen und Unruhe ihr Lohn geweſen iſt. Wie oft
hat ſie mir Gelegenheit gegeben, die Anmerckung
zu machen, daß wir armen Menſchen durch un-
ſere uͤbermaͤßige Bemuͤhung, unſere natuͤrliche
Gemuͤths-Faſſung ungeſtoͤrt zu behalten, das-
jenige verlieren, was eben die Frucht und das
angenehme davon ſeyn ſollte. Denn wer eine
Abſicht gegen uns hat, der merckt unſere Schwach-
heit aus, und giebt auf desjenige Acht, wofuͤr
wir alles andre aufopfern wollen: er beſtuͤrmet
uns von dieſer ſchwachen Seite, und gebraucht
unſere Hoffnung und Furcht als Waffen gegen
uns, dadurch er uns gewiß uͤberwaͤltigen kan.

Mein
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="2">
        <p><pb facs="#f0230" n="210"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Die Ge&#x017F;chichte</hi></hi></fw><lb/>
aber &#x017F;chon&#x017F;t &#x017F;on&#x017F;t ge&#x017F;chrieben, daß ich nicht blos<lb/>
meiner Mutter Art an mir habe, &#x017F;ondern daß &#x017F;ich<lb/>
auch meines Vaters Blut in mir reget. Gewiß<lb/>
wenn ich auf das Acht gebe, was in un&#x017F;erm Hau-<lb/>
&#x017F;e vorgehet, &#x017F;o macht es mir wenig Lu&#x017F;t, meiner<lb/>
Mutter in ihrer Sanfftmurh und Verleugnung<lb/>
auf eine blinde Wei&#x017F;e nachzufolgen. Hat &#x017F;ie mir<lb/>
nicht &#x017F;elb&#x017F;t ge&#x017F;tehen mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en, daß es ihr be&#x017F;cheert<lb/>
&#x017F;ey, daß &#x017F;ie &#x017F;ich immer Unrecht geben und tra-<lb/>
gen muß, was ihr andere auflegen. Bey mei-<lb/>
ner Mutter wird das wahr, was Sie zu &#x017F;agen<lb/>
pflegen: weil &#x017F;ie viel dulden kan, &#x017F;o muß &#x017F;ie<lb/>
auch viel dulden. Was kan man erdencken (&#x017F;ie<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t ge&#x017F;teht es) daß &#x017F;ie nicht aufgeopfert hat, um<lb/>
Frieden zu erhalten? Hat &#x017F;ie aber durch &#x017F;o viele<lb/>
Opfer diejenige Ruhe und Zufriedenheit, die &#x017F;ie<lb/>
doch &#x017F;o &#x017F;ehr verdient, erkauffen ko&#x0364;nnen? Nichts<lb/>
weniger: ich fu&#x0364;rchte vielmehr, daß Mißvergnu&#x0364;-<lb/>
gen und Unruhe ihr Lohn gewe&#x017F;en i&#x017F;t. Wie oft<lb/>
hat &#x017F;ie mir Gelegenheit gegeben, die Anmerckung<lb/>
zu machen, daß wir armen Men&#x017F;chen durch un-<lb/>
&#x017F;ere u&#x0364;berma&#x0364;ßige Bemu&#x0364;hung, un&#x017F;ere natu&#x0364;rliche<lb/>
Gemu&#x0364;ths-Fa&#x017F;&#x017F;ung unge&#x017F;to&#x0364;rt zu behalten, das-<lb/>
jenige verlieren, was eben die Frucht und das<lb/>
angenehme davon &#x017F;eyn &#x017F;ollte. Denn wer eine<lb/>
Ab&#x017F;icht gegen uns hat, der merckt un&#x017F;ere Schwach-<lb/>
heit aus, und giebt auf desjenige Acht, wofu&#x0364;r<lb/>
wir alles andre aufopfern wollen: er be&#x017F;tu&#x0364;rmet<lb/>
uns von die&#x017F;er &#x017F;chwachen Seite, und gebraucht<lb/>
un&#x017F;ere Hoffnung und Furcht als Waffen gegen<lb/>
uns, dadurch er uns gewiß u&#x0364;berwa&#x0364;ltigen kan.</p><lb/>
        <fw place="bottom" type="catch">Mein</fw><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[210/0230] Die Geſchichte aber ſchonſt ſonſt geſchrieben, daß ich nicht blos meiner Mutter Art an mir habe, ſondern daß ſich auch meines Vaters Blut in mir reget. Gewiß wenn ich auf das Acht gebe, was in unſerm Hau- ſe vorgehet, ſo macht es mir wenig Luſt, meiner Mutter in ihrer Sanfftmurh und Verleugnung auf eine blinde Weiſe nachzufolgen. Hat ſie mir nicht ſelbſt geſtehen muͤſſen, daß es ihr beſcheert ſey, daß ſie ſich immer Unrecht geben und tra- gen muß, was ihr andere auflegen. Bey mei- ner Mutter wird das wahr, was Sie zu ſagen pflegen: weil ſie viel dulden kan, ſo muß ſie auch viel dulden. Was kan man erdencken (ſie ſelbſt geſteht es) daß ſie nicht aufgeopfert hat, um Frieden zu erhalten? Hat ſie aber durch ſo viele Opfer diejenige Ruhe und Zufriedenheit, die ſie doch ſo ſehr verdient, erkauffen koͤnnen? Nichts weniger: ich fuͤrchte vielmehr, daß Mißvergnuͤ- gen und Unruhe ihr Lohn geweſen iſt. Wie oft hat ſie mir Gelegenheit gegeben, die Anmerckung zu machen, daß wir armen Menſchen durch un- ſere uͤbermaͤßige Bemuͤhung, unſere natuͤrliche Gemuͤths-Faſſung ungeſtoͤrt zu behalten, das- jenige verlieren, was eben die Frucht und das angenehme davon ſeyn ſollte. Denn wer eine Abſicht gegen uns hat, der merckt unſere Schwach- heit aus, und giebt auf desjenige Acht, wofuͤr wir alles andre aufopfern wollen: er beſtuͤrmet uns von dieſer ſchwachen Seite, und gebraucht unſere Hoffnung und Furcht als Waffen gegen uns, dadurch er uns gewiß uͤberwaͤltigen kan. Mein

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa01_1748
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa01_1748/230
Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 1. Göttingen, 1748, S. 210. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa01_1748/230>, abgerufen am 22.11.2024.