Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 1. Göttingen, 1748.

Bild:
<< vorherige Seite

der Clarissa.
schien mir nicht so zärtlich gegen mich zu seyn
als gestern: und dieser Anblick schlug mich gleich
sehr nieder.

Sie sagte: setze dich nieder/ Clarissa Har-
lowe; ich will gleich mit dir reden:
und
kramte in einem Leinewands-Kasten, ohne daß
man sehen konnte, ob sie beschäfftiget wäre oder
nicht. Nach einiger Zeit fragte sie mich gantz
kaltsinnig: was ich in der Haushaltung angeord-
net hätte? Jch gab ihr den Küchen-Zettel von
dem heutigen und folgenden Tage, und fragte sie:
ob sie damit zufrieden wäre? Sie machte einige
kleine Veränderungen darin, allein mit einer so
kaltsinuigen und steifen Mine, daß meine Unruhe
dadurch vergrössert ward:

Sie sagte: Herr Harlowe gedenckt heute aus-
sern Hause bey seinem Bruder Anton zu speisen.

Jch dachte bey mir selbst: heißt der Mann
Herr Harlowe? Habe ich denn keinen Vater
mehr?

Setze dich nieder/ wenn ich es dir sage!

Jch setzte mich nieder.

Du siehst wunderlich aus/ Clärchen.

Jch will es nicht hoffen: sagte ich.

Wenn Kinder Kinder blieben/ so wür-
den auch Eltern - -
hier hielt sie inne, und
ging vor den Nacht-Tisch, sah in den Spiegel,
ließ einen halben Seufzer fahren, und verhustete
die andere Hälffte, als wenn es ihr leid wäre,
daß sie geseufzt hatte. Jch mag das Mädchen
nicht so murrisch sehen! sagte sie.

Jch
N 5

der Clariſſa.
ſchien mir nicht ſo zaͤrtlich gegen mich zu ſeyn
als geſtern: und dieſer Anblick ſchlug mich gleich
ſehr nieder.

Sie ſagte: ſetze dich nieder/ Clariſſa Har-
lowe; ich will gleich mit dir reden:
und
kramte in einem Leinewands-Kaſten, ohne daß
man ſehen konnte, ob ſie beſchaͤfftiget waͤre oder
nicht. Nach einiger Zeit fragte ſie mich gantz
kaltſinnig: was ich in der Haushaltung angeord-
net haͤtte? Jch gab ihr den Kuͤchen-Zettel von
dem heutigen und folgenden Tage, und fragte ſie:
ob ſie damit zufrieden waͤre? Sie machte einige
kleine Veraͤnderungen darin, allein mit einer ſo
kaltſinuigen und ſteifen Mine, daß meine Unruhe
dadurch vergroͤſſert ward:

Sie ſagte: Herr Harlowe gedenckt heute auſ-
ſern Hauſe bey ſeinem Bruder Anton zu ſpeiſen.

Jch dachte bey mir ſelbſt: heißt der Mann
Herr Harlowe? Habe ich denn keinen Vater
mehr?

Setze dich nieder/ wenn ich es dir ſage!

Jch ſetzte mich nieder.

Du ſiehſt wunderlich aus/ Claͤrchen.

Jch will es nicht hoffen: ſagte ich.

Wenn Kinder Kinder blieben/ ſo wuͤr-
den auch Eltern ‒ ‒
hier hielt ſie inne, und
ging vor den Nacht-Tiſch, ſah in den Spiegel,
ließ einen halben Seufzer fahren, und verhuſtete
die andere Haͤlffte, als wenn es ihr leid waͤre,
daß ſie geſeufzt hatte. Jch mag das Maͤdchen
nicht ſo murriſch ſehen! ſagte ſie.

Jch
N 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="2">
        <p><pb facs="#f0221" n="201"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#g">der Clari&#x017F;&#x017F;a.</hi></hi></fw><lb/>
&#x017F;chien mir nicht &#x017F;o za&#x0364;rtlich gegen mich zu &#x017F;eyn<lb/>
als ge&#x017F;tern: und die&#x017F;er Anblick &#x017F;chlug mich gleich<lb/>
&#x017F;ehr nieder.</p><lb/>
        <p>Sie &#x017F;agte: <hi rendition="#fr">&#x017F;etze dich nieder/ Clari&#x017F;&#x017F;a Har-<lb/>
lowe; ich will gleich mit dir reden:</hi> und<lb/>
kramte in einem Leinewands-Ka&#x017F;ten, ohne daß<lb/>
man &#x017F;ehen konnte, ob &#x017F;ie be&#x017F;cha&#x0364;fftiget wa&#x0364;re oder<lb/>
nicht. Nach einiger Zeit fragte &#x017F;ie mich gantz<lb/>
kalt&#x017F;innig: was ich in der Haushaltung angeord-<lb/>
net ha&#x0364;tte? Jch gab ihr den Ku&#x0364;chen-Zettel von<lb/>
dem heutigen und folgenden Tage, und fragte &#x017F;ie:<lb/>
ob &#x017F;ie damit zufrieden wa&#x0364;re? Sie machte einige<lb/>
kleine Vera&#x0364;nderungen darin, allein mit einer &#x017F;o<lb/>
kalt&#x017F;inuigen und &#x017F;teifen Mine, daß meine Unruhe<lb/>
dadurch vergro&#x0364;&#x017F;&#x017F;ert ward:</p><lb/>
        <p>Sie &#x017F;agte: Herr <hi rendition="#fr">Harlowe</hi> gedenckt heute au&#x017F;-<lb/>
&#x017F;ern Hau&#x017F;e bey &#x017F;einem Bruder <hi rendition="#fr">Anton</hi> zu &#x017F;pei&#x017F;en.</p><lb/>
        <p>Jch dachte bey mir &#x017F;elb&#x017F;t: heißt der Mann<lb/>
Herr <hi rendition="#fr">Harlowe?</hi> Habe ich denn keinen Vater<lb/>
mehr?</p><lb/>
        <p> <hi rendition="#fr">Setze dich nieder/ wenn ich es dir &#x017F;age!</hi> </p><lb/>
        <p>Jch &#x017F;etzte mich nieder.</p><lb/>
        <p> <hi rendition="#fr">Du &#x017F;ieh&#x017F;t wunderlich aus/ Cla&#x0364;rchen.</hi> </p><lb/>
        <p>Jch will es nicht hoffen: &#x017F;agte ich.</p><lb/>
        <p><hi rendition="#fr">Wenn Kinder Kinder blieben/ &#x017F;o wu&#x0364;r-<lb/>
den auch Eltern &#x2012; &#x2012;</hi> hier hielt &#x017F;ie inne, und<lb/>
ging vor den Nacht-Ti&#x017F;ch, &#x017F;ah in den Spiegel,<lb/>
ließ einen halben Seufzer fahren, und verhu&#x017F;tete<lb/>
die andere Ha&#x0364;lffte, als wenn es ihr leid wa&#x0364;re,<lb/>
daß &#x017F;ie ge&#x017F;eufzt hatte. Jch mag das Ma&#x0364;dchen<lb/>
nicht &#x017F;o murri&#x017F;ch &#x017F;ehen! &#x017F;agte &#x017F;ie.</p><lb/>
        <fw place="bottom" type="sig">N 5</fw>
        <fw place="bottom" type="catch">Jch</fw><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[201/0221] der Clariſſa. ſchien mir nicht ſo zaͤrtlich gegen mich zu ſeyn als geſtern: und dieſer Anblick ſchlug mich gleich ſehr nieder. Sie ſagte: ſetze dich nieder/ Clariſſa Har- lowe; ich will gleich mit dir reden: und kramte in einem Leinewands-Kaſten, ohne daß man ſehen konnte, ob ſie beſchaͤfftiget waͤre oder nicht. Nach einiger Zeit fragte ſie mich gantz kaltſinnig: was ich in der Haushaltung angeord- net haͤtte? Jch gab ihr den Kuͤchen-Zettel von dem heutigen und folgenden Tage, und fragte ſie: ob ſie damit zufrieden waͤre? Sie machte einige kleine Veraͤnderungen darin, allein mit einer ſo kaltſinuigen und ſteifen Mine, daß meine Unruhe dadurch vergroͤſſert ward: Sie ſagte: Herr Harlowe gedenckt heute auſ- ſern Hauſe bey ſeinem Bruder Anton zu ſpeiſen. Jch dachte bey mir ſelbſt: heißt der Mann Herr Harlowe? Habe ich denn keinen Vater mehr? Setze dich nieder/ wenn ich es dir ſage! Jch ſetzte mich nieder. Du ſiehſt wunderlich aus/ Claͤrchen. Jch will es nicht hoffen: ſagte ich. Wenn Kinder Kinder blieben/ ſo wuͤr- den auch Eltern ‒ ‒ hier hielt ſie inne, und ging vor den Nacht-Tiſch, ſah in den Spiegel, ließ einen halben Seufzer fahren, und verhuſtete die andere Haͤlffte, als wenn es ihr leid waͤre, daß ſie geſeufzt hatte. Jch mag das Maͤdchen nicht ſo murriſch ſehen! ſagte ſie. Jch N 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa01_1748
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa01_1748/221
Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 1. Göttingen, 1748, S. 201. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa01_1748/221>, abgerufen am 24.11.2024.