Sie sagte: "ich will hinunter gehen, und "dich entschuldigen, daß du diesen Nachmittag "nicht zum Thee kommst: denn ich sehe wohl, "daß noch etwas Ueberwindung bey dir erfodert "wird. Jch verdenke dir dieses nicht, und ich will "auch mit deiner natürlichen Blödigkeit Geduld "haben. Du solst also nicht herunter kommen, "wenn du nicht selbst wilst. Dis eintzige verlan- "ge ich, daß du mich durch deine Aufführung "nicht zur Lügnerin machen solst, wenn du zum "Abendessen kommen wirst. Führe dich auch ge- "gen deinen Bruder und Schwester nicht anders "auf, als du sonst gethan hast: denn aus deinem "Betragen gegen sie werden wir abnehmen, ob "du uns mit Freuden gehorsam bist, oder nicht. "Du siehst, daß ich dir als eine Freundin rathe, da "ich dir als Mutter befehlen könte. Lebe wohl, "mein Hertz." Mit diesen Worten küssete sie mich, und wollte weggehen.
"Meine liebste Mutter," sagte ich, "ver- "geben sie mir: ihr Hertz kan gewiß nicht glau- "ben, daß ich jemals so einen Mann haben "will."
Sie ward sehr ungehalten, und man konte an ihr mercken, daß es sie verdroß, sich in ihrer Hoffnung betrogen zu sehen. Sie drohete mir, sie wollte mich alles allein mit meinem Vater und seinen Brüdern ausmachen lassen. Sie hielt mir offenhertzig und freymüthig vor: ich solte beden- cken, wie ich meinem Bruder und meiner Schwe- ster das Schwerdt in die Hände gäbe, wenn sie
mich
Die Geſchichte
Sie ſagte: „ich will hinunter gehen, und „dich entſchuldigen, daß du dieſen Nachmittag „nicht zum Thee kommſt: denn ich ſehe wohl, „daß noch etwas Ueberwindung bey dir erfodert „wird. Jch verdenke dir dieſes nicht, und ich will „auch mit deiner natuͤrlichen Bloͤdigkeit Geduld „haben. Du ſolſt alſo nicht herunter kommen, „wenn du nicht ſelbſt wilſt. Dis eintzige verlan- „ge ich, daß du mich durch deine Auffuͤhrung „nicht zur Luͤgnerin machen ſolſt, wenn du zum „Abendeſſen kommen wirſt. Fuͤhre dich auch ge- „gen deinen Bruder und Schweſter nicht anders „auf, als du ſonſt gethan haſt: denn aus deinem „Betragen gegen ſie werden wir abnehmen, ob „du uns mit Freuden gehorſam biſt, oder nicht. „Du ſiehſt, daß ich dir als eine Freundin rathe, da „ich dir als Mutter befehlen koͤnte. Lebe wohl, „mein Hertz.„ Mit dieſen Worten kuͤſſete ſie mich, und wollte weggehen.
„Meine liebſte Mutter,„ ſagte ich, „ver- „geben ſie mir: ihr Hertz kan gewiß nicht glau- „ben, daß ich jemals ſo einen Mann haben „will.„
Sie ward ſehr ungehalten, und man konte an ihr mercken, daß es ſie verdroß, ſich in ihrer Hoffnung betrogen zu ſehen. Sie drohete mir, ſie wollte mich alles allein mit meinem Vater und ſeinen Bruͤdern ausmachen laſſen. Sie hielt mir offenhertzig und freymuͤthig vor: ich ſolte beden- cken, wie ich meinem Bruder und meiner Schwe- ſter das Schwerdt in die Haͤnde gaͤbe, wenn ſie
mich
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Die Geſchichte
Sie ſagte: „ich will hinunter gehen, und
„dich entſchuldigen, daß du dieſen Nachmittag
„nicht zum Thee kommſt: denn ich ſehe wohl,
„daß noch etwas Ueberwindung bey dir erfodert
„wird. Jch verdenke dir dieſes nicht, und ich will
„auch mit deiner natuͤrlichen Bloͤdigkeit Geduld
„haben. Du ſolſt alſo nicht herunter kommen,
„wenn du nicht ſelbſt wilſt. Dis eintzige verlan-
„ge ich, daß du mich durch deine Auffuͤhrung
„nicht zur Luͤgnerin machen ſolſt, wenn du zum
„Abendeſſen kommen wirſt. Fuͤhre dich auch ge-
„gen deinen Bruder und Schweſter nicht anders
„auf, als du ſonſt gethan haſt: denn aus deinem
„Betragen gegen ſie werden wir abnehmen, ob
„du uns mit Freuden gehorſam biſt, oder nicht.
„Du ſiehſt, daß ich dir als eine Freundin rathe, da
„ich dir als Mutter befehlen koͤnte. Lebe wohl,
„mein Hertz.„ Mit dieſen Worten kuͤſſete ſie
mich, und wollte weggehen.
„Meine liebſte Mutter,„ ſagte ich, „ver-
„geben ſie mir: ihr Hertz kan gewiß nicht glau-
„ben, daß ich jemals ſo einen Mann haben
„will.„
Sie ward ſehr ungehalten, und man konte
an ihr mercken, daß es ſie verdroß, ſich in ihrer
Hoffnung betrogen zu ſehen. Sie drohete mir,
ſie wollte mich alles allein mit meinem Vater und
ſeinen Bruͤdern ausmachen laſſen. Sie hielt mir
offenhertzig und freymuͤthig vor: ich ſolte beden-
cken, wie ich meinem Bruder und meiner Schwe-
ſter das Schwerdt in die Haͤnde gaͤbe, wenn ſie
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 1. Göttingen, 1748, S. 184. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa01_1748/204>, abgerufen am 27.11.2024.
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