Kinder? Sind ihm diese nicht viel ähnlicher als Sie? Jch bekenne es, daß meine Fragen sehr frey sind: allein verweisen Sie mir ja diese Freyheit nicht, sonst würde die Auslegung, die Sie vorher machen müsten, eben so beissend gegen die Jhrigen seyn, als meine Fragen selbst sind.
Da ich mich einmal gewaget habe, frey zu schreiben, so müssen Sie mir noch ein paar Zeilen von gleicher Art zu gute halten: hernach will ich bescheidener werden. Sollten Sie nicht billig wissen, daß Geitz und Mißgunst nie dadurch besänftiget werden, wenn man dem Geitzigen giebt was er haben will, und wenn man den Neidischen an Verdiensten und eigenen Vorzügen übertrifft. Beydes ist nichts als Zunder für unersättlichen Flammen.
Soll ich Jhnen Rath geben, so müssen Sie mir alle Ursachen schreiben, davon Sie wissen oder vermuthen, daß sie Jhre Geschwister veran- lassen, Sie zu dieser Heyrath zu zwingen. Wenn Sie mir erlauben wollten, einen Auszug aus Jhren Briefen zum Vergnügen und Zeit- vertreib meines Vetters auf der kleinen Jnsel zu machen, der so sehr begierig ist, etwas von Jh- ren Umständen zu hören: so würde ich es für eine sehr grosse Gefälligkeit ansehen.
Sie haben so viel Zärtlichkeit gegen einige Leu- te, die nichts von Zärtlichkeit und Liebe, als blos gegen sich selbst, wissen oder empfinden, daß ich Sie beschwören muß, mir die Wahrheit rein
heraus
F 5
der Clariſſa.
Kinder? Sind ihm dieſe nicht viel aͤhnlicher als Sie? Jch bekenne es, daß meine Fragen ſehr frey ſind: allein verweiſen Sie mir ja dieſe Freyheit nicht, ſonſt wuͤrde die Auslegung, die Sie vorher machen muͤſten, eben ſo beiſſend gegen die Jhrigen ſeyn, als meine Fragen ſelbſt ſind.
Da ich mich einmal gewaget habe, frey zu ſchreiben, ſo muͤſſen Sie mir noch ein paar Zeilen von gleicher Art zu gute halten: hernach will ich beſcheidener werden. Sollten Sie nicht billig wiſſen, daß Geitz und Mißgunſt nie dadurch beſaͤnftiget werden, wenn man dem Geitzigen giebt was er haben will, und wenn man den Neidiſchen an Verdienſten und eigenen Vorzuͤgen uͤbertrifft. Beydes iſt nichts als Zunder fuͤr unerſaͤttlichen Flammen.
Soll ich Jhnen Rath geben, ſo muͤſſen Sie mir alle Urſachen ſchreiben, davon Sie wiſſen oder vermuthen, daß ſie Jhre Geſchwiſter veran- laſſen, Sie zu dieſer Heyrath zu zwingen. Wenn Sie mir erlauben wollten, einen Auszug aus Jhren Briefen zum Vergnuͤgen und Zeit- vertreib meines Vetters auf der kleinen Jnſel zu machen, der ſo ſehr begierig iſt, etwas von Jh- ren Umſtaͤnden zu hoͤren: ſo wuͤrde ich es fuͤr eine ſehr groſſe Gefaͤlligkeit anſehen.
Sie haben ſo viel Zaͤrtlichkeit gegen einige Leu- te, die nichts von Zaͤrtlichkeit und Liebe, als blos gegen ſich ſelbſt, wiſſen oder empfinden, daß ich Sie beſchwoͤren muß, mir die Wahrheit rein
heraus
F 5
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der Clariſſa.
Kinder? Sind ihm dieſe nicht viel aͤhnlicher als
Sie? Jch bekenne es, daß meine Fragen ſehr
frey ſind: allein verweiſen Sie mir ja dieſe
Freyheit nicht, ſonſt wuͤrde die Auslegung, die
Sie vorher machen muͤſten, eben ſo beiſſend
gegen die Jhrigen ſeyn, als meine Fragen ſelbſt
ſind.
Da ich mich einmal gewaget habe, frey zu
ſchreiben, ſo muͤſſen Sie mir noch ein paar
Zeilen von gleicher Art zu gute halten: hernach
will ich beſcheidener werden. Sollten Sie nicht
billig wiſſen, daß Geitz und Mißgunſt nie
dadurch beſaͤnftiget werden, wenn man dem
Geitzigen giebt was er haben will, und wenn
man den Neidiſchen an Verdienſten und eigenen
Vorzuͤgen uͤbertrifft. Beydes iſt nichts als
Zunder fuͤr unerſaͤttlichen Flammen.
Soll ich Jhnen Rath geben, ſo muͤſſen Sie
mir alle Urſachen ſchreiben, davon Sie wiſſen
oder vermuthen, daß ſie Jhre Geſchwiſter veran-
laſſen, Sie zu dieſer Heyrath zu zwingen.
Wenn Sie mir erlauben wollten, einen Auszug
aus Jhren Briefen zum Vergnuͤgen und Zeit-
vertreib meines Vetters auf der kleinen Jnſel zu
machen, der ſo ſehr begierig iſt, etwas von Jh-
ren Umſtaͤnden zu hoͤren: ſo wuͤrde ich es fuͤr
eine ſehr groſſe Gefaͤlligkeit anſehen.
Sie haben ſo viel Zaͤrtlichkeit gegen einige Leu-
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 1. Göttingen, 1748, S. 89. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa01_1748/109>, abgerufen am 27.11.2024.
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