Gräfin zu Reventlow, Fanny: Herrn Dames Aufzeichnungen oder Begebenheiten aus einem merkwürdigen Stadtteil. München, 1913.sie nennt sich Jadwiga, und ihr Begleiter ist ein Rabbi von der deutschen Ostgrenze. Wir haben sie im Karneval kennen gelernt, ich glaube, es war die Kappadozische, die sie entdeckt und in Wahnmoching lanciert hat. Wieso und warum die beiden in das Faschingstreiben gerieten, ist bisher unklar geblieben, denn eigentlich sind sie nur unterwegs, um für den Zionismus Propaganda zu machen. Darüber wurde auch an diesem Nachmittag viel gesprochen, und es war nicht uninteressant, wie Jadwiga von dem Elend der israelitischen Bevölkerung in ihrer Heimat erzählte. Sie saß auf einem Schemel zu Füßen der Hausfrau und sprach immer weiter von ihrer Kindheit; was sie erzählte, waren zum Teil seltsame phantastische Erlebnisse und unleugbar ging ein gewisser Charme von ihr aus, der die Zuhörer mehr oder minder gefangen nahm (der Rabbi lehnte derweil finster und schweigend an der Wand). So schilderte sie einen alten moosbewachsenen Ziehbrunnen, und wie sie als Kind immer in diese runde, grüne Tiefe hineingesehen und dabei förmliche Visionen gehabt habe. Und noch vieles andere -- aber bei der Geschichte vom Ziehbrunnen sprang der Professor auf, durchmaß das Zimmer mit großen Schritten und fragte ganz erregt: "Wissen Sie, daß Brunnen kosmische, dionysische Erlebnisse sind." "Ich wußte es nicht," antwortete sie, und ihr blasses sie nennt sich Jadwiga, und ihr Begleiter ist ein Rabbi von der deutschen Ostgrenze. Wir haben sie im Karneval kennen gelernt, ich glaube, es war die Kappadozische, die sie entdeckt und in Wahnmoching lanciert hat. Wieso und warum die beiden in das Faschingstreiben gerieten, ist bisher unklar geblieben, denn eigentlich sind sie nur unterwegs, um für den Zionismus Propaganda zu machen. Darüber wurde auch an diesem Nachmittag viel gesprochen, und es war nicht uninteressant, wie Jadwiga von dem Elend der israelitischen Bevölkerung in ihrer Heimat erzählte. Sie saß auf einem Schemel zu Füßen der Hausfrau und sprach immer weiter von ihrer Kindheit; was sie erzählte, waren zum Teil seltsame phantastische Erlebnisse und unleugbar ging ein gewisser Charme von ihr aus, der die Zuhörer mehr oder minder gefangen nahm (der Rabbi lehnte derweil finster und schweigend an der Wand). So schilderte sie einen alten moosbewachsenen Ziehbrunnen, und wie sie als Kind immer in diese runde, grüne Tiefe hineingesehen und dabei förmliche Visionen gehabt habe. Und noch vieles andere — aber bei der Geschichte vom Ziehbrunnen sprang der Professor auf, durchmaß das Zimmer mit großen Schritten und fragte ganz erregt: „Wissen Sie, daß Brunnen kosmische, dionysische Erlebnisse sind.“ „Ich wußte es nicht,“ antwortete sie, und ihr blasses <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="1"> <div type="letter" n="2"> <p><pb facs="#f0164" n="160"/> sie nennt sich Jadwiga, und ihr Begleiter ist ein Rabbi von der deutschen Ostgrenze. Wir haben sie im Karneval kennen gelernt, ich glaube, es war die Kappadozische, die sie entdeckt und in Wahnmoching lanciert hat. Wieso und warum die beiden in das Faschingstreiben gerieten, ist bisher unklar geblieben, denn eigentlich sind sie nur unterwegs, um für den Zionismus Propaganda zu machen. Darüber wurde auch an diesem Nachmittag viel gesprochen, und es war nicht uninteressant, wie Jadwiga von dem Elend der israelitischen Bevölkerung in ihrer Heimat erzählte.</p> <p>Sie saß auf einem Schemel zu Füßen der Hausfrau und sprach immer weiter von ihrer Kindheit; was sie erzählte, waren zum Teil seltsame phantastische Erlebnisse und unleugbar ging ein gewisser Charme von ihr aus, der die Zuhörer mehr oder minder gefangen nahm (der Rabbi lehnte derweil finster und schweigend an der Wand). So schilderte sie einen alten moosbewachsenen Ziehbrunnen, und wie sie als Kind immer in diese runde, grüne Tiefe hineingesehen und dabei förmliche Visionen gehabt habe. Und noch vieles andere — aber bei der Geschichte vom Ziehbrunnen sprang der Professor auf, durchmaß das Zimmer mit großen Schritten und fragte ganz erregt:</p> <p>„Wissen Sie, daß Brunnen kosmische, dionysische Erlebnisse sind.“</p> <p>„Ich wußte es nicht,“ antwortete sie, und ihr blasses </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [160/0164]
sie nennt sich Jadwiga, und ihr Begleiter ist ein Rabbi von der deutschen Ostgrenze. Wir haben sie im Karneval kennen gelernt, ich glaube, es war die Kappadozische, die sie entdeckt und in Wahnmoching lanciert hat. Wieso und warum die beiden in das Faschingstreiben gerieten, ist bisher unklar geblieben, denn eigentlich sind sie nur unterwegs, um für den Zionismus Propaganda zu machen. Darüber wurde auch an diesem Nachmittag viel gesprochen, und es war nicht uninteressant, wie Jadwiga von dem Elend der israelitischen Bevölkerung in ihrer Heimat erzählte.
Sie saß auf einem Schemel zu Füßen der Hausfrau und sprach immer weiter von ihrer Kindheit; was sie erzählte, waren zum Teil seltsame phantastische Erlebnisse und unleugbar ging ein gewisser Charme von ihr aus, der die Zuhörer mehr oder minder gefangen nahm (der Rabbi lehnte derweil finster und schweigend an der Wand). So schilderte sie einen alten moosbewachsenen Ziehbrunnen, und wie sie als Kind immer in diese runde, grüne Tiefe hineingesehen und dabei förmliche Visionen gehabt habe. Und noch vieles andere — aber bei der Geschichte vom Ziehbrunnen sprang der Professor auf, durchmaß das Zimmer mit großen Schritten und fragte ganz erregt:
„Wissen Sie, daß Brunnen kosmische, dionysische Erlebnisse sind.“
„Ich wußte es nicht,“ antwortete sie, und ihr blasses
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Zitationshilfe: | Gräfin zu Reventlow, Fanny: Herrn Dames Aufzeichnungen oder Begebenheiten aus einem merkwürdigen Stadtteil. München, 1913, S. 160. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reventlow_dames_1913/164>, abgerufen am 02.03.2025. |