Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Rétif de La Bretonne, Nicolas-Edme: Der fliegende Mensch. Übers. v. Wilhelm Christhelf Siegmund Mylius. 2. Aufl. Dresden u. a., 1785.

Bild:
<< vorherige Seite


Einen Abend wurden Christine und er zusam-
men einig, daß er in der Dunkelheit, ohne jemands
Wissen, selbst ohne der Kammerfrau ihres, ausflie-
gen, und sich aufs Schloß B-m-t begeben, sie
aber nicht vor seiner Wiederkunft, aus ihrer Grotte
gehen solle. Dieß war bloß eine Probe, die Victo-
rin anzustellen gedachte; anstatt wegzugehn, verbarg
er sich im Hintergrunde der Grotte und lauschte, ob
er sich auf die Behutsamkeit seiner Gebieterinn, und
auf seine Leute im Fall eines Gesprächs verlassen
könnte. Er hatte Ursache damit zufrieden zu seyn.
Niemand zweifelte an seiner Abreise, denn man konnte
jederzeit das große Geräusch seiner Flügel hören,
wenn er sich im Flug setzte, -- außer wenn er von
einem hohen und entfernten Felsen herab flog, wel-
chen Umstand aber niemand wußte. Den andern
Morgen stellt' er sich zu großem Erstaunen seiner Leute
bey Christinen ein, als käm' er so eben vom Schlos-
se zu B-m-t, und erzählt' ihr alles, was sich seit
ihrer Entführung daselbst zugetragen hatte.

"Kaum waren sie weggeführt, Mamsell, als
ihr Herr Vater, der einen solchen Vorfall gar nicht
vermuthen konnte, sie überall suchte und suchen ließ:
aber stellen sie sich sein Entsetzen und seinen Schmerz
vor, als man sie bey vollem Tage weder todt noch
lebend fand! Sein Staunen ward dadurch noch
größer, daß auch ihr Koffer mit ihren kostbarsten
Sachen, vom Wagen verschwunden war. Die
sonderbarsten Vermuthungen kamen ihrem Vater in
den Sinn, und seine Verzweifelungen verkehrten sich

in
d. fl. Mensch. E


Einen Abend wurden Chriſtine und er zuſam-
men einig, daß er in der Dunkelheit, ohne jemands
Wiſſen, ſelbſt ohne der Kammerfrau ihres, ausflie-
gen, und ſich aufs Schloß B-m-t begeben, ſie
aber nicht vor ſeiner Wiederkunft, aus ihrer Grotte
gehen ſolle. Dieß war bloß eine Probe, die Victo-
rin anzuſtellen gedachte; anſtatt wegzugehn, verbarg
er ſich im Hintergrunde der Grotte und lauſchte, ob
er ſich auf die Behutſamkeit ſeiner Gebieterinn, und
auf ſeine Leute im Fall eines Geſpraͤchs verlaſſen
koͤnnte. Er hatte Urſache damit zufrieden zu ſeyn.
Niemand zweifelte an ſeiner Abreiſe, denn man konnte
jederzeit das große Geraͤuſch ſeiner Fluͤgel hoͤren,
wenn er ſich im Flug ſetzte, — außer wenn er von
einem hohen und entfernten Felſen herab flog, wel-
chen Umſtand aber niemand wußte. Den andern
Morgen ſtellt’ er ſich zu großem Erſtaunen ſeiner Leute
bey Chriſtinen ein, als kaͤm’ er ſo eben vom Schloſ-
ſe zu B-m-t, und erzaͤhlt’ ihr alles, was ſich ſeit
ihrer Entfuͤhrung daſelbſt zugetragen hatte.

„Kaum waren ſie weggefuͤhrt, Mamſell, als
ihr Herr Vater, der einen ſolchen Vorfall gar nicht
vermuthen konnte, ſie uͤberall ſuchte und ſuchen ließ:
aber ſtellen ſie ſich ſein Entſetzen und ſeinen Schmerz
vor, als man ſie bey vollem Tage weder todt noch
lebend fand! Sein Staunen ward dadurch noch
groͤßer, daß auch ihr Koffer mit ihren koſtbarſten
Sachen, vom Wagen verſchwunden war. Die
ſonderbarſten Vermuthungen kamen ihrem Vater in
den Sinn, und ſeine Verzweifelungen verkehrten ſich

in
d. fl. Menſch. E
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0073"/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        <p>Einen Abend wurden Chri&#x017F;tine und er zu&#x017F;am-<lb/>
men einig, daß er in der Dunkelheit, ohne jemands<lb/>
Wi&#x017F;&#x017F;en, &#x017F;elb&#x017F;t ohne der Kammerfrau ihres, ausflie-<lb/>
gen, und &#x017F;ich aufs Schloß B-m-t begeben, &#x017F;ie<lb/>
aber nicht vor &#x017F;einer Wiederkunft, aus ihrer Grotte<lb/>
gehen &#x017F;olle. Dieß war bloß eine Probe, die Victo-<lb/>
rin anzu&#x017F;tellen gedachte; an&#x017F;tatt wegzugehn, verbarg<lb/>
er &#x017F;ich im Hintergrunde der Grotte und lau&#x017F;chte, ob<lb/>
er &#x017F;ich auf die Behut&#x017F;amkeit &#x017F;einer Gebieterinn, und<lb/>
auf &#x017F;eine Leute im Fall eines Ge&#x017F;pra&#x0364;chs verla&#x017F;&#x017F;en<lb/>
ko&#x0364;nnte. Er hatte Ur&#x017F;ache damit zufrieden zu &#x017F;eyn.<lb/>
Niemand zweifelte an &#x017F;einer Abrei&#x017F;e, denn man konnte<lb/>
jederzeit das große Gera&#x0364;u&#x017F;ch &#x017F;einer Flu&#x0364;gel ho&#x0364;ren,<lb/>
wenn er &#x017F;ich im Flug &#x017F;etzte, &#x2014; außer wenn er von<lb/>
einem hohen und entfernten Fel&#x017F;en herab flog, wel-<lb/>
chen Um&#x017F;tand aber niemand wußte. Den andern<lb/>
Morgen &#x017F;tellt&#x2019; er &#x017F;ich zu großem Er&#x017F;taunen &#x017F;einer Leute<lb/>
bey Chri&#x017F;tinen ein, als ka&#x0364;m&#x2019; er &#x017F;o eben vom Schlo&#x017F;-<lb/>
&#x017F;e zu B-m-t, und erza&#x0364;hlt&#x2019; ihr alles, was &#x017F;ich &#x017F;eit<lb/>
ihrer Entfu&#x0364;hrung da&#x017F;elb&#x017F;t zugetragen hatte.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Kaum waren &#x017F;ie weggefu&#x0364;hrt, Mam&#x017F;ell, als<lb/>
ihr Herr Vater, der einen &#x017F;olchen Vorfall gar nicht<lb/>
vermuthen konnte, &#x017F;ie u&#x0364;berall &#x017F;uchte und &#x017F;uchen ließ:<lb/>
aber &#x017F;tellen &#x017F;ie &#x017F;ich &#x017F;ein Ent&#x017F;etzen und &#x017F;einen Schmerz<lb/>
vor, als man &#x017F;ie bey vollem Tage weder todt noch<lb/>
lebend fand! Sein Staunen ward dadurch noch<lb/>
gro&#x0364;ßer, daß auch ihr Koffer mit ihren ko&#x017F;tbar&#x017F;ten<lb/>
Sachen, vom Wagen ver&#x017F;chwunden war. Die<lb/>
&#x017F;onderbar&#x017F;ten Vermuthungen kamen ihrem Vater in<lb/>
den Sinn, und &#x017F;eine Verzweifelungen verkehrten &#x017F;ich<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#fr">d. fl. Men&#x017F;ch.</hi> E</fw><fw place="bottom" type="catch">in</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0073] Einen Abend wurden Chriſtine und er zuſam- men einig, daß er in der Dunkelheit, ohne jemands Wiſſen, ſelbſt ohne der Kammerfrau ihres, ausflie- gen, und ſich aufs Schloß B-m-t begeben, ſie aber nicht vor ſeiner Wiederkunft, aus ihrer Grotte gehen ſolle. Dieß war bloß eine Probe, die Victo- rin anzuſtellen gedachte; anſtatt wegzugehn, verbarg er ſich im Hintergrunde der Grotte und lauſchte, ob er ſich auf die Behutſamkeit ſeiner Gebieterinn, und auf ſeine Leute im Fall eines Geſpraͤchs verlaſſen koͤnnte. Er hatte Urſache damit zufrieden zu ſeyn. Niemand zweifelte an ſeiner Abreiſe, denn man konnte jederzeit das große Geraͤuſch ſeiner Fluͤgel hoͤren, wenn er ſich im Flug ſetzte, — außer wenn er von einem hohen und entfernten Felſen herab flog, wel- chen Umſtand aber niemand wußte. Den andern Morgen ſtellt’ er ſich zu großem Erſtaunen ſeiner Leute bey Chriſtinen ein, als kaͤm’ er ſo eben vom Schloſ- ſe zu B-m-t, und erzaͤhlt’ ihr alles, was ſich ſeit ihrer Entfuͤhrung daſelbſt zugetragen hatte. „Kaum waren ſie weggefuͤhrt, Mamſell, als ihr Herr Vater, der einen ſolchen Vorfall gar nicht vermuthen konnte, ſie uͤberall ſuchte und ſuchen ließ: aber ſtellen ſie ſich ſein Entſetzen und ſeinen Schmerz vor, als man ſie bey vollem Tage weder todt noch lebend fand! Sein Staunen ward dadurch noch groͤßer, daß auch ihr Koffer mit ihren koſtbarſten Sachen, vom Wagen verſchwunden war. Die ſonderbarſten Vermuthungen kamen ihrem Vater in den Sinn, und ſeine Verzweifelungen verkehrten ſich in d. fl. Menſch. E

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/retif_mensch_1785
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/retif_mensch_1785/73
Zitationshilfe: Rétif de La Bretonne, Nicolas-Edme: Der fliegende Mensch. Übers. v. Wilhelm Christhelf Siegmund Mylius. 2. Aufl. Dresden u. a., 1785, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/retif_mensch_1785/73>, abgerufen am 24.11.2024.