"Sie haben vermuthlich Romane gelesen, Herr Victorin?"
"Ja, Mamsell, ich habe den Cyrus gelesen, den Palexander, die Clelie, die Astree und die Prin- zeßinn von Cleve, die mir am meisten gefallen hat."
"Das dacht' ich mir bald aus ihren Reden."
"Ach! Mamsell, das ist viel Ehre für mich."
"Man muß die englischen Romane, die Pamela, die Clarisse, den Grandison lesen."
"Die hab ich nicht."
"Jch wills meiner Juliane sagen, daß sie sie ihnen borgen soll. Aber daß sie nicht etwa ein Love- lace werden!"
Sobald als sie mir es verbieten, Mamsell, ver- sichere ich, daß ichs nicht werden will.
Christine lächelte über die unschuldige Miene, mit welcher Victorin antwortete. Als sie am Ende eines Ganges kamen, ward sie ihren Vater, ihre Mutter und einige Freunde, nahe bey ihnen gewahr. Christine, erröthete über ihre Vertraulichkeit mit des Fiscalprocurators Sohne; Sie nahm ihren kleinen Gnadenblick an, der ihre Reize nicht verminderte, und sagte, ob gleich mit einigem Widerwillen: Lebe wohl, Victorin.
Der junge Mann grüßte die Gesellschaft, und zog sich so gut als ihm möglich war, zurück, aber er merkte wohl, daß ein bäuerisches Ungeschicke seine Verbeugung verstellt haben mochte. Er verließ das Schloß mit dem festen Vorsatz, in der Stadt keine
Gele-
C 4
„Sie haben vermuthlich Romane geleſen, Herr Victorin?‟
„Ja, Mamſell, ich habe den Cyrus geleſen, den Palexander, die Clelie, die Aſtree und die Prin- zeßinn von Cleve, die mir am meiſten gefallen hat.‟
„Das dacht’ ich mir bald aus ihren Reden.‟
„Ach! Mamſell, das iſt viel Ehre fuͤr mich.‟
„Man muß die engliſchen Romane, die Pamela, die Clariſſe, den Grandiſon leſen.‟
„Die hab ich nicht.‟
„Jch wills meiner Juliane ſagen, daß ſie ſie ihnen borgen ſoll. Aber daß ſie nicht etwa ein Love- lace werden!‟
Sobald als ſie mir es verbieten, Mamſell, ver- ſichere ich, daß ichs nicht werden will.
Chriſtine laͤchelte uͤber die unſchuldige Miene, mit welcher Victorin antwortete. Als ſie am Ende eines Ganges kamen, ward ſie ihren Vater, ihre Mutter und einige Freunde, nahe bey ihnen gewahr. Chriſtine, erroͤthete uͤber ihre Vertraulichkeit mit des Fiſcalprocurators Sohne; Sie nahm ihren kleinen Gnadenblick an, der ihre Reize nicht verminderte, und ſagte, ob gleich mit einigem Widerwillen: Lebe wohl, Victorin.
Der junge Mann gruͤßte die Geſellſchaft, und zog ſich ſo gut als ihm moͤglich war, zuruͤck, aber er merkte wohl, daß ein baͤueriſches Ungeſchicke ſeine Verbeugung verſtellt haben mochte. Er verließ das Schloß mit dem feſten Vorſatz, in der Stadt keine
Gele-
C 4
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0047"n="39"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><p>„Sie haben vermuthlich Romane geleſen, Herr<lb/>
Victorin?‟</p><lb/><p>„Ja, Mamſell, ich habe den Cyrus geleſen,<lb/>
den Palexander, die Clelie, die Aſtree und die Prin-<lb/>
zeßinn von Cleve, die mir am meiſten gefallen hat.‟</p><lb/><p>„Das dacht’ ich mir bald aus ihren Reden.‟</p><lb/><p>„Ach! Mamſell, das iſt viel Ehre fuͤr mich.‟</p><lb/><p>„Man muß die engliſchen Romane, die Pamela,<lb/>
die Clariſſe, den Grandiſon leſen.‟</p><lb/><p>„Die hab ich nicht.‟</p><lb/><p>„Jch wills meiner Juliane ſagen, daß ſie ſie<lb/>
ihnen borgen ſoll. Aber daß ſie nicht etwa ein Love-<lb/>
lace werden!‟</p><lb/><p>Sobald als ſie mir es verbieten, Mamſell, ver-<lb/>ſichere ich, daß ichs nicht werden will.</p><lb/><p>Chriſtine laͤchelte uͤber die unſchuldige Miene,<lb/>
mit welcher Victorin antwortete. Als ſie am Ende<lb/>
eines Ganges kamen, ward ſie ihren Vater, ihre<lb/>
Mutter und einige Freunde, nahe bey ihnen gewahr.<lb/>
Chriſtine, erroͤthete uͤber ihre Vertraulichkeit mit des<lb/>
Fiſcalprocurators Sohne; Sie nahm ihren kleinen<lb/>
Gnadenblick an, der ihre Reize nicht verminderte,<lb/>
und ſagte, ob gleich mit einigem Widerwillen: Lebe<lb/>
wohl, Victorin.</p><lb/><p>Der junge Mann gruͤßte die Geſellſchaft, und<lb/>
zog ſich ſo gut als ihm moͤglich war, zuruͤck, aber<lb/>
er merkte wohl, daß ein baͤueriſches Ungeſchicke ſeine<lb/>
Verbeugung verſtellt haben mochte. Er verließ das<lb/>
Schloß mit dem feſten Vorſatz, in der Stadt keine<lb/><fwplace="bottom"type="sig">C 4</fw><fwplace="bottom"type="catch">Gele-</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[39/0047]
„Sie haben vermuthlich Romane geleſen, Herr
Victorin?‟
„Ja, Mamſell, ich habe den Cyrus geleſen,
den Palexander, die Clelie, die Aſtree und die Prin-
zeßinn von Cleve, die mir am meiſten gefallen hat.‟
„Das dacht’ ich mir bald aus ihren Reden.‟
„Ach! Mamſell, das iſt viel Ehre fuͤr mich.‟
„Man muß die engliſchen Romane, die Pamela,
die Clariſſe, den Grandiſon leſen.‟
„Die hab ich nicht.‟
„Jch wills meiner Juliane ſagen, daß ſie ſie
ihnen borgen ſoll. Aber daß ſie nicht etwa ein Love-
lace werden!‟
Sobald als ſie mir es verbieten, Mamſell, ver-
ſichere ich, daß ichs nicht werden will.
Chriſtine laͤchelte uͤber die unſchuldige Miene,
mit welcher Victorin antwortete. Als ſie am Ende
eines Ganges kamen, ward ſie ihren Vater, ihre
Mutter und einige Freunde, nahe bey ihnen gewahr.
Chriſtine, erroͤthete uͤber ihre Vertraulichkeit mit des
Fiſcalprocurators Sohne; Sie nahm ihren kleinen
Gnadenblick an, der ihre Reize nicht verminderte,
und ſagte, ob gleich mit einigem Widerwillen: Lebe
wohl, Victorin.
Der junge Mann gruͤßte die Geſellſchaft, und
zog ſich ſo gut als ihm moͤglich war, zuruͤck, aber
er merkte wohl, daß ein baͤueriſches Ungeſchicke ſeine
Verbeugung verſtellt haben mochte. Er verließ das
Schloß mit dem feſten Vorſatz, in der Stadt keine
Gele-
C 4
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Rétif de La Bretonne, Nicolas-Edme: Der fliegende Mensch. Übers. v. Wilhelm Christhelf Siegmund Mylius. 2. Aufl. Dresden u. a., 1785, S. 39. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/retif_mensch_1785/47>, abgerufen am 16.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.