zweite Art, sie verzögert aber die Auflösung län- ger: sie zur Erhaltung einbalsamiren, ist eine Gottlosigkeit. Wenn wir Verbrecher hätten, so würde das Einbalsamiren der gröste Schandflerk sein, den man ihnen anthun könte.
-- Diese Denkungsart ist der Europäischen ganz entgegen -- sprach Hermantin: aber sie scheint mir weit klüger.
-- Unsere Jugend fürchtet den Tod daher nicht im geringsten und würde fürtrefliche Solda- ten abgeben, wenn wir von den ehrfüchtigen Eu- nopäern ie solten angegriffen werden. Endlich er- weisen wir den Verstorbenen grosse Ehre und ihre Namen werden lange aufbehalten, man wiederholt sie von Alter zu Alter in ieder Familie nebst einer oder zwei ihrer schönsten und merkwürdigsten Handlungen. ... Aber ich kehr wieder auf eure Frage wegen unsrer Moral zurück; sie besteht blos in der Wahl der Mittel, auf dem kürzesten und den wenigsten Hin- dernissen ausgesetzten Wege zur Glückseligkeit zu ge- langen: und da eine ungezähmte Wollust grosse Unbequemlichkeiten haben würde, so könt ihr leicht erachten, daß wir diesen Weg nicht einschlagen. Wir wissen, daß die Entbehrung das Vergnügen schmackhafter macht, und so zu sagen einen Hun- ger darnach erweckt; daher haben wir Zeiten, wo wir derselben entbehren. Auch ist bei unserm Ge- nuß Maas und Ziel gesetzt: wir treiben sie nie bis
zur
zweite Art, ſie verzoͤgert aber die Aufloͤſung laͤn- ger: ſie zur Erhaltung einbalſamiren, iſt eine Gottloſigkeit. Wenn wir Verbrecher haͤtten, ſo wuͤrde das Einbalſamiren der groͤſte Schandflerk ſein, den man ihnen anthun koͤnte.
— Dieſe Denkungsart iſt der Europaͤiſchen ganz entgegen — ſprach Hermantin: aber ſie ſcheint mir weit kluͤger.
— Unſere Jugend fuͤrchtet den Tod daher nicht im geringſten und wuͤrde fuͤrtrefliche Solda- ten abgeben, wenn wir von den ehrfuͤchtigen Eu- nopaͤern ie ſolten angegriffen werden. Endlich er- weiſen wir den Verſtorbenen groſſe Ehre und ihre Namen werden lange aufbehalten, man wiederholt ſie von Alter zu Alter in ieder Familie nebſt einer oder zwei ihrer ſchoͤnſten und merkwuͤrdigſten Handlungen. … Aber ich kehr wieder auf eure Frage wegen unſrer Moral zuruͤck; ſie beſteht blos in der Wahl der Mittel, auf dem kuͤrzeſten und den wenigſten Hin- derniſſen ausgeſetzten Wege zur Gluͤckſeligkeit zu ge- langen: und da eine ungezaͤhmte Wolluſt groſſe Unbequemlichkeiten haben wuͤrde, ſo koͤnt ihr leicht erachten, daß wir dieſen Weg nicht einſchlagen. Wir wiſſen, daß die Entbehrung das Vergnuͤgen ſchmackhafter macht, und ſo zu ſagen einen Hun- ger darnach erweckt; daher haben wir Zeiten, wo wir derſelben entbehren. Auch iſt bei unſerm Ge- nuß Maas und Ziel geſetzt: wir treiben ſie nie bis
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zweite Art, ſie verzoͤgert aber die Aufloͤſung laͤn-
ger: ſie zur Erhaltung einbalſamiren, iſt eine
Gottloſigkeit. Wenn wir Verbrecher haͤtten, ſo
wuͤrde das Einbalſamiren der groͤſte Schandflerk
ſein, den man ihnen anthun koͤnte.
— Dieſe Denkungsart iſt der Europaͤiſchen
ganz entgegen — ſprach Hermantin: aber ſie
ſcheint mir weit kluͤger.
— Unſere Jugend fuͤrchtet den Tod daher
nicht im geringſten und wuͤrde fuͤrtrefliche Solda-
ten abgeben, wenn wir von den ehrfuͤchtigen Eu-
nopaͤern ie ſolten angegriffen werden. Endlich er-
weiſen wir den Verſtorbenen groſſe Ehre und ihre
Namen werden lange aufbehalten, man wiederholt
ſie von Alter zu Alter in ieder Familie nebſt einer oder
zwei ihrer ſchoͤnſten und merkwuͤrdigſten Handlungen. …
Aber ich kehr wieder auf eure Frage wegen unſrer
Moral zuruͤck; ſie beſteht blos in der Wahl der
Mittel, auf dem kuͤrzeſten und den wenigſten Hin-
derniſſen ausgeſetzten Wege zur Gluͤckſeligkeit zu ge-
langen: und da eine ungezaͤhmte Wolluſt groſſe
Unbequemlichkeiten haben wuͤrde, ſo koͤnt ihr leicht
erachten, daß wir dieſen Weg nicht einſchlagen.
Wir wiſſen, daß die Entbehrung das Vergnuͤgen
ſchmackhafter macht, und ſo zu ſagen einen Hun-
ger darnach erweckt; daher haben wir Zeiten, wo
wir derſelben entbehren. Auch iſt bei unſerm Ge-
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Rétif de La Bretonne, Nicolas-Edme: Der fliegende Mensch. Übers. v. Wilhelm Christhelf Siegmund Mylius. 2. Aufl. Dresden u. a., 1785, S. 340. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/retif_mensch_1785/348>, abgerufen am 16.07.2024.
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