wünscht, zuvor zu kommen suchte, wie ich sie bedie- ne; wie ich ihr es an nichts fehlen lasse; wie ich ihr die besten Vögel und das schönste Weißbrod aus der Stadt zum Unterhalt verschaffte; wie ich alle Tage ihrentwegen jagte und arbeitete, so daß auch sie mich von ganzem Herzen liebte.
"Ach könnt' ich doch meine arme Tochter nur einmal sehen, würd' er, wenn er alles dies gehört, ausrufen."
Mit folchen bezaubernden Träumen versüßte der junge Victorin manche Stunde seiner Leiden; aber bald kamen sie mit verstärkter Heftigkeit wieder; denn mitten in seinen angenehmen Hirngespinsten, erwachte plötzlich sein Geist, und mit Thränen sprach er bey sich: Ach! alles dies ist doch nur Täuschung!
Jn dieser tiefen Schwermuth sucht' er dann die Einsamkeit noch weit mehr, und hätte ihm das Ver- langen Christinen zu sehen, nicht zuweilen aufs Schloß gebracht, würde man ihn vielleicht nie ge- sehen haben.
Als er eines Tages im Garten war, erschien Christine mit ihrer Kammerfrau. Victorin war vor Vergnügen sie zu sehen taumelnd. Christine ver- langte einen weißen etwas hochhangenden Rosen- zweig; die Kaminerfrau wollt' ihn pflücken, stach sich aber bis aufs Blut, ward Victorin gewahr und ruft' ihn zu sich:
"Victorin, sie sind geschickter als ich, pflücken sie doch diese schöne Rosen für meine junge Herr- schaft --"
Victorin
wuͤnſcht, zuvor zu kommen ſuchte, wie ich ſie bedie- ne; wie ich ihr es an nichts fehlen laſſe; wie ich ihr die beſten Voͤgel und das ſchoͤnſte Weißbrod aus der Stadt zum Unterhalt verſchaffte; wie ich alle Tage ihrentwegen jagte und arbeitete, ſo daß auch ſie mich von ganzem Herzen liebte.
„Ach koͤnnt’ ich doch meine arme Tochter nur einmal ſehen, wuͤrd’ er, wenn er alles dies gehoͤrt, ausrufen.‟
Mit folchen bezaubernden Traͤumen verſuͤßte der junge Victorin manche Stunde ſeiner Leiden; aber bald kamen ſie mit verſtaͤrkter Heftigkeit wieder; denn mitten in ſeinen angenehmen Hirngeſpinſten, erwachte ploͤtzlich ſein Geiſt, und mit Thraͤnen ſprach er bey ſich: Ach! alles dies iſt doch nur Taͤuſchung!
Jn dieſer tiefen Schwermuth ſucht’ er dann die Einſamkeit noch weit mehr, und haͤtte ihm das Ver- langen Chriſtinen zu ſehen, nicht zuweilen aufs Schloß gebracht, wuͤrde man ihn vielleicht nie ge- ſehen haben.
Als er eines Tages im Garten war, erſchien Chriſtine mit ihrer Kammerfrau. Victorin war vor Vergnuͤgen ſie zu ſehen taumelnd. Chriſtine ver- langte einen weißen etwas hochhangenden Roſen- zweig; die Kaminerfrau wollt’ ihn pfluͤcken, ſtach ſich aber bis aufs Blut, ward Victorin gewahr und ruft’ ihn zu ſich:
„Victorin, ſie ſind geſchickter als ich, pfluͤcken ſie doch dieſe ſchoͤne Roſen fuͤr meine junge Herr- ſchaft —‟
Victorin
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wuͤnſcht, zuvor zu kommen ſuchte, wie ich ſie bedie-
ne; wie ich ihr es an nichts fehlen laſſe; wie ich ihr
die beſten Voͤgel und das ſchoͤnſte Weißbrod aus der
Stadt zum Unterhalt verſchaffte; wie ich alle Tage
ihrentwegen jagte und arbeitete, ſo daß auch ſie mich
von ganzem Herzen liebte.
„Ach koͤnnt’ ich doch meine arme Tochter nur
einmal ſehen, wuͤrd’ er, wenn er alles dies gehoͤrt,
ausrufen.‟
Mit folchen bezaubernden Traͤumen verſuͤßte der
junge Victorin manche Stunde ſeiner Leiden; aber
bald kamen ſie mit verſtaͤrkter Heftigkeit wieder;
denn mitten in ſeinen angenehmen Hirngeſpinſten,
erwachte ploͤtzlich ſein Geiſt, und mit Thraͤnen ſprach
er bey ſich: Ach! alles dies iſt doch nur Taͤuſchung!
Jn dieſer tiefen Schwermuth ſucht’ er dann die
Einſamkeit noch weit mehr, und haͤtte ihm das Ver-
langen Chriſtinen zu ſehen, nicht zuweilen aufs
Schloß gebracht, wuͤrde man ihn vielleicht nie ge-
ſehen haben.
Als er eines Tages im Garten war, erſchien
Chriſtine mit ihrer Kammerfrau. Victorin war vor
Vergnuͤgen ſie zu ſehen taumelnd. Chriſtine ver-
langte einen weißen etwas hochhangenden Roſen-
zweig; die Kaminerfrau wollt’ ihn pfluͤcken, ſtach
ſich aber bis aufs Blut, ward Victorin gewahr und
ruft’ ihn zu ſich:
„Victorin, ſie ſind geſchickter als ich, pfluͤcken
ſie doch dieſe ſchoͤne Roſen fuͤr meine junge Herr-
ſchaft —‟
Victorin
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Rétif de La Bretonne, Nicolas-Edme: Der fliegende Mensch. Übers. v. Wilhelm Christhelf Siegmund Mylius. 2. Aufl. Dresden u. a., 1785, S. 18. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/retif_mensch_1785/26>, abgerufen am 16.02.2025.
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