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Rétif de La Bretonne, Nicolas-Edme: Der fliegende Mensch. Übers. v. Wilhelm Christhelf Siegmund Mylius. 2. Aufl. Dresden u. a., 1785.

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Wenig Tage drauf, merkte man eine gänzliche
Aenderung an ihnen, sie flohen nicht mehr bei dem
Anblick der Menschen. Diese Stimmung nützte
man, um sie zu bereden, sich in einem Schiffe
fortschaffen zu lassen, und dazu bewogen sie grö-
stentheils die beiden Zöglinge. Man nützte diese
Schwäche, und diese Art von Mangel an Bewußt-
sein, welches dem Erstarren voranging, um sie
einzuschiffen. Jn der Maasse, als man sich dem
Aequator näherte, spürte man; daß sie von neu-
en auflebten. Man setzte sie sehr munter ab, und
war so glücklich, ihnen ihr künftiges Glück be-
greiflich zu machen. Sie wurden in ihrer Er-
wartung nicht betrogen. Zwar schienen sie anfangs
sehr boshaft, aber sie nahmen unter der Herr-
schaft der Abkömlinge, aus vermischten Gattungen
der Bewohner der Christininsel, die man dorthin
schickte, nach und nach sanftere Gesinnungen an.

-- Hätte man irgend eine Gattung zernichten
wollen, so würden es ohne Zweifel die Schlan-
genmenschen gewesen sein, sprach einst Victorin zu
seinen Söhnen, aber wir haben ganz anders ge-
dacht: Welche Schande für die Europäer, die
von einer Gattung entsprossen, und beinah alle
verwandt' sich verabscheuen, sich herabsetzen, und auf
eine unmenschliche Art Nothwendigkeiten einander ver-
sagen, und bis zur Ermordung gehn! Die Unglück-
lichen! die nichts als ihr Selbst, ihr Unge-
mach und alle ihre Fehler empfinden, andern sich
mittheilen, und dann auf sich selbst würken! ...

Die
Q 3



Wenig Tage drauf, merkte man eine gaͤnzliche
Aenderung an ihnen, ſie flohen nicht mehr bei dem
Anblick der Menſchen. Dieſe Stimmung nuͤtzte
man, um ſie zu bereden, ſich in einem Schiffe
fortſchaffen zu laſſen, und dazu bewogen ſie groͤ-
ſtentheils die beiden Zoͤglinge. Man nuͤtzte dieſe
Schwaͤche, und dieſe Art von Mangel an Bewußt-
ſein, welches dem Erſtarren voranging, um ſie
einzuſchiffen. Jn der Maaſſe, als man ſich dem
Aequator naͤherte, ſpuͤrte man; daß ſie von neu-
en auflebten. Man ſetzte ſie ſehr munter ab, und
war ſo gluͤcklich, ihnen ihr kuͤnftiges Gluͤck be-
greiflich zu machen. Sie wurden in ihrer Er-
wartung nicht betrogen. Zwar ſchienen ſie anfangs
ſehr boshaft, aber ſie nahmen unter der Herr-
ſchaft der Abkoͤmlinge, aus vermiſchten Gattungen
der Bewohner der Chriſtininſel, die man dorthin
ſchickte, nach und nach ſanftere Geſinnungen an.

— Haͤtte man irgend eine Gattung zernichten
wollen, ſo wuͤrden es ohne Zweifel die Schlan-
genmenſchen geweſen ſein, ſprach einſt Victorin zu
ſeinen Soͤhnen, aber wir haben ganz anders ge-
dacht: Welche Schande fuͤr die Europaͤer, die
von einer Gattung entſproſſen, und beinah alle
verwandt’ ſich verabſcheuen, ſich herabſetzen, und auf
eine unmenſchliche Art Nothwendigkeiten einander ver-
ſagen, und bis zur Ermordung gehn! Die Ungluͤck-
lichen! die nichts als ihr Selbſt, ihr Unge-
mach und alle ihre Fehler empfinden, andern ſich
mittheilen, und dann auf ſich ſelbſt wuͤrken! …

Die
Q 3
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[245/0253] Wenig Tage drauf, merkte man eine gaͤnzliche Aenderung an ihnen, ſie flohen nicht mehr bei dem Anblick der Menſchen. Dieſe Stimmung nuͤtzte man, um ſie zu bereden, ſich in einem Schiffe fortſchaffen zu laſſen, und dazu bewogen ſie groͤ- ſtentheils die beiden Zoͤglinge. Man nuͤtzte dieſe Schwaͤche, und dieſe Art von Mangel an Bewußt- ſein, welches dem Erſtarren voranging, um ſie einzuſchiffen. Jn der Maaſſe, als man ſich dem Aequator naͤherte, ſpuͤrte man; daß ſie von neu- en auflebten. Man ſetzte ſie ſehr munter ab, und war ſo gluͤcklich, ihnen ihr kuͤnftiges Gluͤck be- greiflich zu machen. Sie wurden in ihrer Er- wartung nicht betrogen. Zwar ſchienen ſie anfangs ſehr boshaft, aber ſie nahmen unter der Herr- ſchaft der Abkoͤmlinge, aus vermiſchten Gattungen der Bewohner der Chriſtininſel, die man dorthin ſchickte, nach und nach ſanftere Geſinnungen an. — Haͤtte man irgend eine Gattung zernichten wollen, ſo wuͤrden es ohne Zweifel die Schlan- genmenſchen geweſen ſein, ſprach einſt Victorin zu ſeinen Soͤhnen, aber wir haben ganz anders ge- dacht: Welche Schande fuͤr die Europaͤer, die von einer Gattung entſproſſen, und beinah alle verwandt’ ſich verabſcheuen, ſich herabſetzen, und auf eine unmenſchliche Art Nothwendigkeiten einander ver- ſagen, und bis zur Ermordung gehn! Die Ungluͤck- lichen! die nichts als ihr Selbſt, ihr Unge- mach und alle ihre Fehler empfinden, andern ſich mittheilen, und dann auf ſich ſelbſt wuͤrken! … Die Q 3

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Zitationshilfe: Rétif de La Bretonne, Nicolas-Edme: Der fliegende Mensch. Übers. v. Wilhelm Christhelf Siegmund Mylius. 2. Aufl. Dresden u. a., 1785, S. 245. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/retif_mensch_1785/253>, abgerufen am 22.11.2024.