Einst als er in einer abgesonderten Gegend sich befand, sah' er zwey große Vögel, vermuthlich wa- ren es Störche -- hernieder fliegen; durch irgend einen Zufall hatten sie sich von ihrem Haufen ge- trennt, und stiegen neben einander herab, um ihre Nahrung zu suchen. Victorin sah sie mit Bewun- derung an.
Ach! könnt' ich fliegen wie ihr, ruft' er aus, dies würd' in den Augen der Christine mehr als ade- liche Abkunft gelten! Jch wollte sie entführen, sie anbeten, und ihr alles, was sie verlangte, geben, ich wollt' ihr ein artiges und bequemes Nest auf ei- nem steilen Felsen, gesichert gegen alle menschliche Anfälle bauen; wie glücklich wollten wir seyn! ich würde sie eben so stark, als sie mich lieben, und wenn wir nach zehn Jahren artige Kinder, so schön wie sie, hätten, wollt' ich zu dem Herrn von *** ihrem Vater gehen, und ihm eine von meinen Töchtern ähn- lich ihrer Mutter bringen, und sagen: hier mein Herr, geb' ich ihnen ihre verjüngte Tochter wieder. Wie geht das zu, Victorin, würd' er erwiedern, wo dist du seit zehn Jahren gewesen? Aber ohne Ant- wort würd' ich meine Flügel ausbreiten, die bishet ein großer Mantel vor ihm verdeckt hatte und davon fliehen; da sollt' er schön sich wundern! und er wür- de meine Tochter, die wir genau zuvor unterrichtet hätten, fragen:
"Wer sind sie, mein schönes Kind, und wo kommen sie her?"
"Von
Einſt als er in einer abgeſonderten Gegend ſich befand, ſah’ er zwey große Voͤgel, vermuthlich wa- ren es Stoͤrche — hernieder fliegen; durch irgend einen Zufall hatten ſie ſich von ihrem Haufen ge- trennt, und ſtiegen neben einander herab, um ihre Nahrung zu ſuchen. Victorin ſah ſie mit Bewun- derung an.
Ach! koͤnnt’ ich fliegen wie ihr, ruft’ er aus, dies wuͤrd’ in den Augen der Chriſtine mehr als ade- liche Abkunft gelten! Jch wollte ſie entfuͤhren, ſie anbeten, und ihr alles, was ſie verlangte, geben, ich wollt’ ihr ein artiges und bequemes Neſt auf ei- nem ſteilen Felſen, geſichert gegen alle menſchliche Anfaͤlle bauen; wie gluͤcklich wollten wir ſeyn! ich wuͤrde ſie eben ſo ſtark, als ſie mich lieben, und wenn wir nach zehn Jahren artige Kinder, ſo ſchoͤn wie ſie, haͤtten, wollt’ ich zu dem Herrn von *** ihrem Vater gehen, und ihm eine von meinen Toͤchtern aͤhn- lich ihrer Mutter bringen, und ſagen: hier mein Herr, geb’ ich ihnen ihre verjuͤngte Tochter wieder. Wie geht das zu, Victorin, wuͤrd’ er erwiedern, wo diſt du ſeit zehn Jahren geweſen? Aber ohne Ant- wort wuͤrd’ ich meine Fluͤgel ausbreiten, die bishet ein großer Mantel vor ihm verdeckt hatte und davon fliehen; da ſollt’ er ſchoͤn ſich wundern! und er wuͤr- de meine Tochter, die wir genau zuvor unterrichtet haͤtten, fragen:
„Wer ſind ſie, mein ſchoͤnes Kind, und wo kommen ſie her?‟
„Von
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Einſt als er in einer abgeſonderten Gegend ſich
befand, ſah’ er zwey große Voͤgel, vermuthlich wa-
ren es Stoͤrche — hernieder fliegen; durch irgend
einen Zufall hatten ſie ſich von ihrem Haufen ge-
trennt, und ſtiegen neben einander herab, um ihre
Nahrung zu ſuchen. Victorin ſah ſie mit Bewun-
derung an.
Ach! koͤnnt’ ich fliegen wie ihr, ruft’ er aus,
dies wuͤrd’ in den Augen der Chriſtine mehr als ade-
liche Abkunft gelten! Jch wollte ſie entfuͤhren, ſie
anbeten, und ihr alles, was ſie verlangte, geben,
ich wollt’ ihr ein artiges und bequemes Neſt auf ei-
nem ſteilen Felſen, geſichert gegen alle menſchliche
Anfaͤlle bauen; wie gluͤcklich wollten wir ſeyn! ich
wuͤrde ſie eben ſo ſtark, als ſie mich lieben, und wenn
wir nach zehn Jahren artige Kinder, ſo ſchoͤn wie
ſie, haͤtten, wollt’ ich zu dem Herrn von *** ihrem
Vater gehen, und ihm eine von meinen Toͤchtern aͤhn-
lich ihrer Mutter bringen, und ſagen: hier mein
Herr, geb’ ich ihnen ihre verjuͤngte Tochter wieder.
Wie geht das zu, Victorin, wuͤrd’ er erwiedern, wo
diſt du ſeit zehn Jahren geweſen? Aber ohne Ant-
wort wuͤrd’ ich meine Fluͤgel ausbreiten, die bishet
ein großer Mantel vor ihm verdeckt hatte und davon
fliehen; da ſollt’ er ſchoͤn ſich wundern! und er wuͤr-
de meine Tochter, die wir genau zuvor unterrichtet
haͤtten, fragen:
„Wer ſind ſie, mein ſchoͤnes Kind, und wo
kommen ſie her?‟
„Von
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Rétif de La Bretonne, Nicolas-Edme: Der fliegende Mensch. Übers. v. Wilhelm Christhelf Siegmund Mylius. 2. Aufl. Dresden u. a., 1785, S. 16. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/retif_mensch_1785/24>, abgerufen am 27.11.2024.
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