Rétif de La Bretonne, Nicolas-Edme: Der fliegende Mensch. Übers. v. Wilhelm Christhelf Siegmund Mylius. 2. Aufl. Dresden u. a., 1785.S**. Das Kammermädchen war ernsthaft, tief- sinnig, anständig in ihren Gesprächen, und beynahe so liebenswürdig, als die zärtliche Fannier. Der tragische Schauspieler glich an Schönheit dem P*il und spielte eben so schlecht: er hatte eine Unver- schämtheit und einen stinkenden Stolz, der aber doch mit des *** seinem nicht in Vergleichung kommt. Der Advokat, den ich seiner Verkleidung ungeachtet erkannte, war ein berühmter Mann, den ich wenig schätze, und noch weniger liebe, gehaßt, verfolgt, selbst ein Verfolger und sogar ein Verläumder. Der Kaufmann, ein ehrlicher, sehr reicher und sehr ein- fältiger Mann, aß viel, trank viel, schlief noch bes- ser, schnarchte für vier Mann, und nahm beynahe eben so viel Taback, als der Benediktiner, mit dem er sich von irdischen Dingen unterhielt. Der, ich weiß nicht wer, war ein Mann weder alt noch jung, weder schön noch häßlich, weder dick noch ma- ger, weder groß noch klein; schien weder reich noch arm, weder witzig noch dumm; sprach weder zu viel noch zu wenig, aß von allem, war mit allem zu- frieden, und sein ganzes Betragen zeigte, daß er nichts auf der Welt weder haßte noch liebte. Was mich endlich betrifft, so bin ich ein zu außerordent- liches Original, als nicht auch ein Wort von mir selbst zu sagen. Man stelle sich einen kleinen Menschen vor, der natür-
S**. Das Kammermaͤdchen war ernſthaft, tief- ſinnig, anſtaͤndig in ihren Geſpraͤchen, und beynahe ſo liebenswuͤrdig, als die zaͤrtliche Fannier. Der tragiſche Schauſpieler glich an Schoͤnheit dem P*il und ſpielte eben ſo ſchlecht: er hatte eine Unver- ſchaͤmtheit und einen ſtinkenden Stolz, der aber doch mit des *** ſeinem nicht in Vergleichung kommt. Der Advokat, den ich ſeiner Verkleidung ungeachtet erkannte, war ein beruͤhmter Mann, den ich wenig ſchaͤtze, und noch weniger liebe, gehaßt, verfolgt, ſelbſt ein Verfolger und ſogar ein Verlaͤumder. Der Kaufmann, ein ehrlicher, ſehr reicher und ſehr ein- faͤltiger Mann, aß viel, trank viel, ſchlief noch beſ- ſer, ſchnarchte fuͤr vier Mann, und nahm beynahe eben ſo viel Taback, als der Benediktiner, mit dem er ſich von irdiſchen Dingen unterhielt. Der, ich weiß nicht wer, war ein Mann weder alt noch jung, weder ſchoͤn noch haͤßlich, weder dick noch ma- ger, weder groß noch klein; ſchien weder reich noch arm, weder witzig noch dumm; ſprach weder zu viel noch zu wenig, aß von allem, war mit allem zu- frieden, und ſein ganzes Betragen zeigte, daß er nichts auf der Welt weder haßte noch liebte. Was mich endlich betrifft, ſo bin ich ein zu außerordent- liches Original, als nicht auch ein Wort von mir ſelbſt zu ſagen. Man ſtelle ſich einen kleinen Menſchen vor, der natuͤr-
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S**. Das Kammermaͤdchen war ernſthaft, tief-
ſinnig, anſtaͤndig in ihren Geſpraͤchen, und beynahe
ſo liebenswuͤrdig, als die zaͤrtliche Fannier. Der
tragiſche Schauſpieler glich an Schoͤnheit dem P*il
und ſpielte eben ſo ſchlecht: er hatte eine Unver-
ſchaͤmtheit und einen ſtinkenden Stolz, der aber doch
mit des *** ſeinem nicht in Vergleichung kommt.
Der Advokat, den ich ſeiner Verkleidung ungeachtet
erkannte, war ein beruͤhmter Mann, den ich wenig
ſchaͤtze, und noch weniger liebe, gehaßt, verfolgt,
ſelbſt ein Verfolger und ſogar ein Verlaͤumder. Der
Kaufmann, ein ehrlicher, ſehr reicher und ſehr ein-
faͤltiger Mann, aß viel, trank viel, ſchlief noch beſ-
ſer, ſchnarchte fuͤr vier Mann, und nahm beynahe
eben ſo viel Taback, als der Benediktiner, mit dem
er ſich von irdiſchen Dingen unterhielt. Der, ich
weiß nicht wer, war ein Mann weder alt noch
jung, weder ſchoͤn noch haͤßlich, weder dick noch ma-
ger, weder groß noch klein; ſchien weder reich noch
arm, weder witzig noch dumm; ſprach weder zu viel
noch zu wenig, aß von allem, war mit allem zu-
frieden, und ſein ganzes Betragen zeigte, daß er
nichts auf der Welt weder haßte noch liebte. Was
mich endlich betrifft, ſo bin ich ein zu außerordent-
liches Original, als nicht auch ein Wort von mir
ſelbſt zu ſagen.
Man ſtelle ſich einen kleinen Menſchen vor, der
ſich ſo ungeſchickt traͤgt, daß er ganz verunſtaltet
ſcheint; deſſen traurige und tiefſinnige Miene, ſein
zwiſchen zwey hohen Schultern verſteckter Kopf, ſein
unordentlicher und unentſchloſſener Gang ziemlich
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Zitationshilfe: | Rétif de La Bretonne, Nicolas-Edme: Der fliegende Mensch. Übers. v. Wilhelm Christhelf Siegmund Mylius. 2. Aufl. Dresden u. a., 1785, S. 2. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/retif_mensch_1785/10>, abgerufen am 16.02.2025. |