Durch eine lange und in unsern Augen nicht leichte Schule reift der Lehrling zum Gesellen, der Geselle zum Meister heran, und nur, wo Talent, Fleiss und Ausdauer zusammenwirken, wird die höchste Stufe erreicht, die Stellung des tonangebenden, einen Fortschritt be- wirkenden Künstlers. Aber das ganze Volk, vom Höchstgestellten bis zum gemeinen Manne herab, zeigt Interesse und Verständniss für die Erzeugnisse des Kunsthandwerks, und hierin liegt ohne Zweifel ein gewaltiges Förderungsmittel seiner Bestrebungen.
Das Auge und die Hand des Japaners sind durchschnittlich ge- übter, als bei einem Europäer; selbst der gemeine Mann vermag meist leicht eine anschauliche Skizze eines Gegenstandes oder Weges zu entwerfen. Woher kommt dies? Ist der höhere Kunstsinn, die grössere Fertigkeit des Volkes angeboren oder anerzogen? -- Ich nehme letz- teres an und glaube, der Schlüssel liegt hauptsächlich in den grossen Schwierigkeiten, welche das Erlernen der vielen japanischen und chinesischen Schriftzeichen macht. Es gehört jahrelange Uebung und viel Fleiss dazu, bis das Auge sie rasch zu unterscheiden, die den Tuschpinsel führende Hand sie leicht nachzumachen vermag. So er- langt jenes die grosse Fähigkeit im Erkennen und Erfassen von Form und Maass, und diese die Geschicklichkeit beide getreu wiederzugeben.*)
Mit seiner Kunstfertigkeit vereint der Japaner nicht blos viel Nachahmungstrieb, sondern auch eine grosse Findigkeit, wo es sich um kleine Kunstgriffe und Ueberraschungen handelt. Der erfinderische Geist des Nordamerikaners ist ein speculativer, auf das Ersinnen zweckmässiger Werkzeuge und Vorrichtungen gerichtet, die man in England und Amerika zum Theil als Yankee Notions (Yankee-Ideen) bezeichnet. Der Japaner ersinnt dagegen kleine kunstgewerbliche Spielereien. Dort ist Gewinn durch Erleichterung und Ersatz der Handarbeit die Triebfeder der Erfindung, hier die Freude an künst- lerischem Schaffen, ohne alle Berechnung des daraus etwa entsprin- genden materiellen Vorteils. --
Indem ich mich nun zur Besprechung des japanischen Einflusses auf das Kunstgewerbe des christlichen Abendlandes wende, erscheint mir die Unterscheidung dreier Perioden, nämlich die portugiesische, die holländische und die neuere Zeit des Verkehrs mit dem Lande des Sonnenaufgangs (Nippon) geboten zu sein. Der fast ausschliessliche
*) Wenn der Vergleich zulässig ist, möchte ich an die slavischen Völker er- innern und die anerkannte Leichtigkeit, mit der sie fremde Sprachen erlernen. Die Schwierigkeiten der Muttersprache üben bei ihnen Ohr und Zunge und be- fähigen sie zur leichten Auffassung und Wiedergabe des fremden Idioms.
III. Kunstgewerbe und Verwandtes.
Durch eine lange und in unsern Augen nicht leichte Schule reift der Lehrling zum Gesellen, der Geselle zum Meister heran, und nur, wo Talent, Fleiss und Ausdauer zusammenwirken, wird die höchste Stufe erreicht, die Stellung des tonangebenden, einen Fortschritt be- wirkenden Künstlers. Aber das ganze Volk, vom Höchstgestellten bis zum gemeinen Manne herab, zeigt Interesse und Verständniss für die Erzeugnisse des Kunsthandwerks, und hierin liegt ohne Zweifel ein gewaltiges Förderungsmittel seiner Bestrebungen.
Das Auge und die Hand des Japaners sind durchschnittlich ge- übter, als bei einem Europäer; selbst der gemeine Mann vermag meist leicht eine anschauliche Skizze eines Gegenstandes oder Weges zu entwerfen. Woher kommt dies? Ist der höhere Kunstsinn, die grössere Fertigkeit des Volkes angeboren oder anerzogen? — Ich nehme letz- teres an und glaube, der Schlüssel liegt hauptsächlich in den grossen Schwierigkeiten, welche das Erlernen der vielen japanischen und chinesischen Schriftzeichen macht. Es gehört jahrelange Uebung und viel Fleiss dazu, bis das Auge sie rasch zu unterscheiden, die den Tuschpinsel führende Hand sie leicht nachzumachen vermag. So er- langt jenes die grosse Fähigkeit im Erkennen und Erfassen von Form und Maass, und diese die Geschicklichkeit beide getreu wiederzugeben.*)
Mit seiner Kunstfertigkeit vereint der Japaner nicht blos viel Nachahmungstrieb, sondern auch eine grosse Findigkeit, wo es sich um kleine Kunstgriffe und Ueberraschungen handelt. Der erfinderische Geist des Nordamerikaners ist ein speculativer, auf das Ersinnen zweckmässiger Werkzeuge und Vorrichtungen gerichtet, die man in England und Amerika zum Theil als Yankee Notions (Yankee-Ideen) bezeichnet. Der Japaner ersinnt dagegen kleine kunstgewerbliche Spielereien. Dort ist Gewinn durch Erleichterung und Ersatz der Handarbeit die Triebfeder der Erfindung, hier die Freude an künst- lerischem Schaffen, ohne alle Berechnung des daraus etwa entsprin- genden materiellen Vorteils. —
Indem ich mich nun zur Besprechung des japanischen Einflusses auf das Kunstgewerbe des christlichen Abendlandes wende, erscheint mir die Unterscheidung dreier Perioden, nämlich die portugiesische, die holländische und die neuere Zeit des Verkehrs mit dem Lande des Sonnenaufgangs (Nippon) geboten zu sein. Der fast ausschliessliche
*) Wenn der Vergleich zulässig ist, möchte ich an die slavischen Völker er- innern und die anerkannte Leichtigkeit, mit der sie fremde Sprachen erlernen. Die Schwierigkeiten der Muttersprache üben bei ihnen Ohr und Zunge und be- fähigen sie zur leichten Auffassung und Wiedergabe des fremden Idioms.
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III. Kunstgewerbe und Verwandtes.
Durch eine lange und in unsern Augen nicht leichte Schule reift
der Lehrling zum Gesellen, der Geselle zum Meister heran, und nur,
wo Talent, Fleiss und Ausdauer zusammenwirken, wird die höchste
Stufe erreicht, die Stellung des tonangebenden, einen Fortschritt be-
wirkenden Künstlers. Aber das ganze Volk, vom Höchstgestellten bis
zum gemeinen Manne herab, zeigt Interesse und Verständniss für die
Erzeugnisse des Kunsthandwerks, und hierin liegt ohne Zweifel ein
gewaltiges Förderungsmittel seiner Bestrebungen.
Das Auge und die Hand des Japaners sind durchschnittlich ge-
übter, als bei einem Europäer; selbst der gemeine Mann vermag meist
leicht eine anschauliche Skizze eines Gegenstandes oder Weges zu
entwerfen. Woher kommt dies? Ist der höhere Kunstsinn, die grössere
Fertigkeit des Volkes angeboren oder anerzogen? — Ich nehme letz-
teres an und glaube, der Schlüssel liegt hauptsächlich in den grossen
Schwierigkeiten, welche das Erlernen der vielen japanischen und
chinesischen Schriftzeichen macht. Es gehört jahrelange Uebung und
viel Fleiss dazu, bis das Auge sie rasch zu unterscheiden, die den
Tuschpinsel führende Hand sie leicht nachzumachen vermag. So er-
langt jenes die grosse Fähigkeit im Erkennen und Erfassen von Form
und Maass, und diese die Geschicklichkeit beide getreu wiederzugeben. *)
Mit seiner Kunstfertigkeit vereint der Japaner nicht blos viel
Nachahmungstrieb, sondern auch eine grosse Findigkeit, wo es sich
um kleine Kunstgriffe und Ueberraschungen handelt. Der erfinderische
Geist des Nordamerikaners ist ein speculativer, auf das Ersinnen
zweckmässiger Werkzeuge und Vorrichtungen gerichtet, die man in
England und Amerika zum Theil als Yankee Notions (Yankee-Ideen)
bezeichnet. Der Japaner ersinnt dagegen kleine kunstgewerbliche
Spielereien. Dort ist Gewinn durch Erleichterung und Ersatz der
Handarbeit die Triebfeder der Erfindung, hier die Freude an künst-
lerischem Schaffen, ohne alle Berechnung des daraus etwa entsprin-
genden materiellen Vorteils. —
Indem ich mich nun zur Besprechung des japanischen Einflusses
auf das Kunstgewerbe des christlichen Abendlandes wende, erscheint
mir die Unterscheidung dreier Perioden, nämlich die portugiesische,
die holländische und die neuere Zeit des Verkehrs mit dem Lande des
Sonnenaufgangs (Nippon) geboten zu sein. Der fast ausschliessliche
*) Wenn der Vergleich zulässig ist, möchte ich an die slavischen Völker er-
innern und die anerkannte Leichtigkeit, mit der sie fremde Sprachen erlernen.
Die Schwierigkeiten der Muttersprache üben bei ihnen Ohr und Zunge und be-
fähigen sie zur leichten Auffassung und Wiedergabe des fremden Idioms.
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Rein, Johann Justus: Japan nach Reisen und Studien. Bd. 2. Leipzig, 1886, S. 388. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rein_japan02_1886/412>, abgerufen am 24.11.2024.
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