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Rein, Johann Justus: Japan nach Reisen und Studien. Bd. 1. Leipzig, 1881.

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II. Ethnographie.
zulässig. Aber nur wenige Kamihallen, darunter die berühmtesten,
haben diese ursprüngliche Einfachheit bewahrt, so vor allem das der
Sonnengöttin Amaterasu (Tensho Daijin) geweihte Heiligthum bei
Yamada in Ise; ferner der Oyashiro zu Kidzuki in Idzumo, worin
Okunishi, der oberste Erdengott und erste Beherrscher jenes Gebietes,
verehrt wird. In Tokio bietet der im Stadttheile Kudan dem An-
denken der im Bürgerkriege 1868 Gefallenen errichtete Tempel Sho-
konsha*) (siehe Abbildung) ein deutliches Bild einer einfachen Kami-
halle. Die unschönen Glaslaternen, welche hier die Stelle alter
Steinlaternen (Ishi-doro) vertreten, sind freilich eine Neuerung, welche
eben so wenig passt, wie die beiden Oeldruckbilder in Goldrahmen,
die uns im Honden selbst überraschen und die Schlachten von Wörth
und Gravelotte vorstellen. Links von der hohen Eingangstreppe zur
Halle befindet sich ein langer steinerner Trog mit geweihtem Wasser,
dann an der Treppe selbst die mit einem hölzernen Gitter geschlossene
Opferlade zur Aufnahme der Kupfermünzen, welche hier gespendet
werden, und neben dieser das Seil mit der Glocke, welche jeder
Kommende rührt, um sich des Kami Audienz zu erbitten. Der Shin-
toismus bezweckt die Glückseligkeit des irdischen Lebens und nimmt
an, dass dabei die Seelen der Entschlafenen wesentlich mitwirken
können. Dieselben werden also gegenwärtig gedacht und durch
Händeklatschen, eine Schelle, Trommel etc. gerufen, wenn man sich
zu ihnen wendet. In jedem Hause ist den Kami der Vorfahren ein
kleiner Altar errichtet, vor dem das Familienhaupt in eigenthümlicher
Weise seine Andacht verrichtet.

Die Shintogötter sind keineswegs die erhabenen, sittenreinen
Gestalten, wie sie der Buddhismus vorführt, keine Heiligen durch
Ueberwindung der Sinnenlust, sondern mit allen menschlichen Ge-
fühlen und Schwächen behaftet und durch Alles erfreut, was auch
dem Lebenden Genuss und Zerstreuung bringt. Daher sucht man
sie an ihren Jahresfesten nicht blos mit Speise und Trank, sondern
auch durch theatralische Aufzüge, Pantomimen u. dergl. zu ergötzen
und findet es nicht anstössig, dass der Weg aus der Stadt Yamada
in Ise zum grössten Shinto-Heiligthum des Landes durch eine Strasse
führt, in der gar manches Haus dem Dienste der Aphrodite ge-
widmet ist.

Vom Diener der Kami verlangt man mehr Reinheit des Körpers
als des Herzens, wie denn auch nicht hervorragende Tugendhaftig-

*) Shokonsha, aus den chinesischen Worten sho, einladen, kon, Geist, sha,
Tempel, gebildet.

II. Ethnographie.
zulässig. Aber nur wenige Kamihallen, darunter die berühmtesten,
haben diese ursprüngliche Einfachheit bewahrt, so vor allem das der
Sonnengöttin Amaterasu (Tenshô Daijin) geweihte Heiligthum bei
Yamada in Ise; ferner der Oyashiro zu Kidzuki in Idzumo, worin
Okunishi, der oberste Erdengott und erste Beherrscher jenes Gebietes,
verehrt wird. In Tôkio bietet der im Stadttheile Kudan dem An-
denken der im Bürgerkriege 1868 Gefallenen errichtete Tempel Sho-
konsha*) (siehe Abbildung) ein deutliches Bild einer einfachen Kami-
halle. Die unschönen Glaslaternen, welche hier die Stelle alter
Steinlaternen (Ishi-dôrô) vertreten, sind freilich eine Neuerung, welche
eben so wenig passt, wie die beiden Oeldruckbilder in Goldrahmen,
die uns im Honden selbst überraschen und die Schlachten von Wörth
und Gravelotte vorstellen. Links von der hohen Eingangstreppe zur
Halle befindet sich ein langer steinerner Trog mit geweihtem Wasser,
dann an der Treppe selbst die mit einem hölzernen Gitter geschlossene
Opferlade zur Aufnahme der Kupfermünzen, welche hier gespendet
werden, und neben dieser das Seil mit der Glocke, welche jeder
Kommende rührt, um sich des Kami Audienz zu erbitten. Der Shin-
tôismus bezweckt die Glückseligkeit des irdischen Lebens und nimmt
an, dass dabei die Seelen der Entschlafenen wesentlich mitwirken
können. Dieselben werden also gegenwärtig gedacht und durch
Händeklatschen, eine Schelle, Trommel etc. gerufen, wenn man sich
zu ihnen wendet. In jedem Hause ist den Kami der Vorfahren ein
kleiner Altar errichtet, vor dem das Familienhaupt in eigenthümlicher
Weise seine Andacht verrichtet.

Die Shintôgötter sind keineswegs die erhabenen, sittenreinen
Gestalten, wie sie der Buddhismus vorführt, keine Heiligen durch
Ueberwindung der Sinnenlust, sondern mit allen menschlichen Ge-
fühlen und Schwächen behaftet und durch Alles erfreut, was auch
dem Lebenden Genuss und Zerstreuung bringt. Daher sucht man
sie an ihren Jahresfesten nicht blos mit Speise und Trank, sondern
auch durch theatralische Aufzüge, Pantomimen u. dergl. zu ergötzen
und findet es nicht anstössig, dass der Weg aus der Stadt Yamada
in Ise zum grössten Shintô-Heiligthum des Landes durch eine Strasse
führt, in der gar manches Haus dem Dienste der Aphrodite ge-
widmet ist.

Vom Diener der Kami verlangt man mehr Reinheit des Körpers
als des Herzens, wie denn auch nicht hervorragende Tugendhaftig-

*) Shokonsha, aus den chinesischen Worten sho, einladen, kon, Geist, sha,
Tempel, gebildet.
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[516/0550] II. Ethnographie. zulässig. Aber nur wenige Kamihallen, darunter die berühmtesten, haben diese ursprüngliche Einfachheit bewahrt, so vor allem das der Sonnengöttin Amaterasu (Tenshô Daijin) geweihte Heiligthum bei Yamada in Ise; ferner der Oyashiro zu Kidzuki in Idzumo, worin Okunishi, der oberste Erdengott und erste Beherrscher jenes Gebietes, verehrt wird. In Tôkio bietet der im Stadttheile Kudan dem An- denken der im Bürgerkriege 1868 Gefallenen errichtete Tempel Sho- konsha *) (siehe Abbildung) ein deutliches Bild einer einfachen Kami- halle. Die unschönen Glaslaternen, welche hier die Stelle alter Steinlaternen (Ishi-dôrô) vertreten, sind freilich eine Neuerung, welche eben so wenig passt, wie die beiden Oeldruckbilder in Goldrahmen, die uns im Honden selbst überraschen und die Schlachten von Wörth und Gravelotte vorstellen. Links von der hohen Eingangstreppe zur Halle befindet sich ein langer steinerner Trog mit geweihtem Wasser, dann an der Treppe selbst die mit einem hölzernen Gitter geschlossene Opferlade zur Aufnahme der Kupfermünzen, welche hier gespendet werden, und neben dieser das Seil mit der Glocke, welche jeder Kommende rührt, um sich des Kami Audienz zu erbitten. Der Shin- tôismus bezweckt die Glückseligkeit des irdischen Lebens und nimmt an, dass dabei die Seelen der Entschlafenen wesentlich mitwirken können. Dieselben werden also gegenwärtig gedacht und durch Händeklatschen, eine Schelle, Trommel etc. gerufen, wenn man sich zu ihnen wendet. In jedem Hause ist den Kami der Vorfahren ein kleiner Altar errichtet, vor dem das Familienhaupt in eigenthümlicher Weise seine Andacht verrichtet. Die Shintôgötter sind keineswegs die erhabenen, sittenreinen Gestalten, wie sie der Buddhismus vorführt, keine Heiligen durch Ueberwindung der Sinnenlust, sondern mit allen menschlichen Ge- fühlen und Schwächen behaftet und durch Alles erfreut, was auch dem Lebenden Genuss und Zerstreuung bringt. Daher sucht man sie an ihren Jahresfesten nicht blos mit Speise und Trank, sondern auch durch theatralische Aufzüge, Pantomimen u. dergl. zu ergötzen und findet es nicht anstössig, dass der Weg aus der Stadt Yamada in Ise zum grössten Shintô-Heiligthum des Landes durch eine Strasse führt, in der gar manches Haus dem Dienste der Aphrodite ge- widmet ist. Vom Diener der Kami verlangt man mehr Reinheit des Körpers als des Herzens, wie denn auch nicht hervorragende Tugendhaftig- *) Shokonsha, aus den chinesischen Worten sho, einladen, kon, Geist, sha, Tempel, gebildet.

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Zitationshilfe: Rein, Johann Justus: Japan nach Reisen und Studien. Bd. 1. Leipzig, 1881, S. 516. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rein_japan01_1881/550>, abgerufen am 25.11.2024.