5. Kalender und Volksfeste. Sexagesimal-Cyclus etc.
Man hat die Lieblingsblumen des japanischen Volkes nach ihrer Blüthezeit geordnet, also sogenannte Blüthenkalender zusammengestellt. Obenan nach dem alten Kalender steht die japanische Mume (Prunus Mume), eine Pflaumenart, welche im Februar ihre noch blattlosen Zweige mit weissen oder rothen Blüthen bedeckt, gewissermassen den Frühling einleitet und auch als Decorationsmotiv im Kunstgewerbe eine hervorragende Rolle spielt. Einen Monat später folgen die Pfir- sichblüthen. Die wilden Kirschbäume Japans oder Sakura (Prunus pseudocerasus) zeigen im April ihre Blüthenfülle und ziehen damit an vielen Orten, wo sie in Menge zur Zierde angebaut sind, die Bewohner der Umgegend zahlreich an. Im Mai blüht der Fuji (Wistaria chinensis) und schmückt die einzigen Lauben, welche man in Japan kennt, z. B. im Garten des Tempels zu Kamedo in Tokio (siehe Abbildung pag. 486). Einen Monat später bewundert man die Blüthen der Iris oder Ayame und des Calamus oder Shobu. Im Juni erscheinen die schönen grossen Blüthen des von Dichtern so viel be- sungenen Botan (Paeonia Mutan) und der Hasu oder Lotosblume (Nelumbium speciosum), dann folgen im August und September blühende Hibiscus-Arten, insbesondere der Fuyo (H. mutabilis), denen sich Susuki (Eulalia japonica) und andere Herbstblumen anschliessen. Im October aber sehen wir, wie bereits hervorgehoben wurde, Kiku- no-hana, die Blüthen des Chrysanthemum; auch färbt sich in diesem Monat das Laub vom Momiji (Acer polymorphum) und anderer Ge- wächse prächtig roth. Im November und December blühen Sasanqua und Cha (Camellia sasanqua und Thea chinensis), und endlich im Januar -- in Gärten wenigstens -- die gewöhnlichen Camellien.
Für die Bewohner der Hauptstadt Tokio kommen noch zwei an- dere Feste in Betracht, welche eine ungewöhnlich grosse Volksan- sammlung bewirken, nämlich die sogenannte Eröffnung des Sumidagawa und das Fest von Kudan. Jenes findet am 28. Juni unterhalb der Hauptbrücke Riogoku-bashi statt. An den Ufern des Flusses, auf den Brücken und zahlreichen Booten sammelt sich, sobald der Abend herannaht, eine festlich gekleidete Menge dicht gedrängt, um das Schauspiel eines grossen Feuerwerks auf dem Flusse zu geniessen. Tausende von bunten Lampen erhellen ringsum die Nacht, welcher eine leichte Brise vom Meere her angenehme Kühle bringt. Wenn dann die Mitternacht bald herannaht, verzieht sich die ungeheuere Menge friedlich und vergnügt. Kein wildes Geheul, keine Rauferei der Heimkehrenden stört in den übrigen Stadttheilen die nächtliche Ruhe, wie solches in Europa bei ähnlichen Anlässen so oft der Fall ist. Das Fest beim Tempel Shokonsha dauert drei Tage, nämlich
5. Kalender und Volksfeste. Sexagesimal-Cyclus etc.
Man hat die Lieblingsblumen des japanischen Volkes nach ihrer Blüthezeit geordnet, also sogenannte Blüthenkalender zusammengestellt. Obenan nach dem alten Kalender steht die japanische Mume (Prunus Mume), eine Pflaumenart, welche im Februar ihre noch blattlosen Zweige mit weissen oder rothen Blüthen bedeckt, gewissermassen den Frühling einleitet und auch als Decorationsmotiv im Kunstgewerbe eine hervorragende Rolle spielt. Einen Monat später folgen die Pfir- sichblüthen. Die wilden Kirschbäume Japans oder Sakura (Prunus pseudocerasus) zeigen im April ihre Blüthenfülle und ziehen damit an vielen Orten, wo sie in Menge zur Zierde angebaut sind, die Bewohner der Umgegend zahlreich an. Im Mai blüht der Fuji (Wistaria chinensis) und schmückt die einzigen Lauben, welche man in Japan kennt, z. B. im Garten des Tempels zu Kamedo in Tôkio (siehe Abbildung pag. 486). Einen Monat später bewundert man die Blüthen der Iris oder Ayame und des Calamus oder Shobu. Im Juni erscheinen die schönen grossen Blüthen des von Dichtern so viel be- sungenen Botan (Paeonia Mutan) und der Hasu oder Lotosblume (Nelumbium speciosum), dann folgen im August und September blühende Hibiscus-Arten, insbesondere der Fuyô (H. mutabilis), denen sich Susuki (Eulalia japonica) und andere Herbstblumen anschliessen. Im October aber sehen wir, wie bereits hervorgehoben wurde, Kiku- no-hana, die Blüthen des Chrysanthemum; auch färbt sich in diesem Monat das Laub vom Momiji (Acer polymorphum) und anderer Ge- wächse prächtig roth. Im November und December blühen Sasanqua und Cha (Camellia sasanqua und Thea chinensis), und endlich im Januar — in Gärten wenigstens — die gewöhnlichen Camellien.
Für die Bewohner der Hauptstadt Tôkio kommen noch zwei an- dere Feste in Betracht, welche eine ungewöhnlich grosse Volksan- sammlung bewirken, nämlich die sogenannte Eröffnung des Sumidagawa und das Fest von Kudan. Jenes findet am 28. Juni unterhalb der Hauptbrücke Riôgoku-bashi statt. An den Ufern des Flusses, auf den Brücken und zahlreichen Booten sammelt sich, sobald der Abend herannaht, eine festlich gekleidete Menge dicht gedrängt, um das Schauspiel eines grossen Feuerwerks auf dem Flusse zu geniessen. Tausende von bunten Lampen erhellen ringsum die Nacht, welcher eine leichte Brise vom Meere her angenehme Kühle bringt. Wenn dann die Mitternacht bald herannaht, verzieht sich die ungeheuere Menge friedlich und vergnügt. Kein wildes Geheul, keine Rauferei der Heimkehrenden stört in den übrigen Stadttheilen die nächtliche Ruhe, wie solches in Europa bei ähnlichen Anlässen so oft der Fall ist. Das Fest beim Tempel Shokonsha dauert drei Tage, nämlich
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5. Kalender und Volksfeste. Sexagesimal-Cyclus etc.
Man hat die Lieblingsblumen des japanischen Volkes nach ihrer
Blüthezeit geordnet, also sogenannte Blüthenkalender zusammengestellt.
Obenan nach dem alten Kalender steht die japanische Mume (Prunus
Mume), eine Pflaumenart, welche im Februar ihre noch blattlosen
Zweige mit weissen oder rothen Blüthen bedeckt, gewissermassen
den Frühling einleitet und auch als Decorationsmotiv im Kunstgewerbe
eine hervorragende Rolle spielt. Einen Monat später folgen die Pfir-
sichblüthen. Die wilden Kirschbäume Japans oder Sakura (Prunus
pseudocerasus) zeigen im April ihre Blüthenfülle und ziehen damit
an vielen Orten, wo sie in Menge zur Zierde angebaut sind, die
Bewohner der Umgegend zahlreich an. Im Mai blüht der Fuji
(Wistaria chinensis) und schmückt die einzigen Lauben, welche man
in Japan kennt, z. B. im Garten des Tempels zu Kamedo in Tôkio
(siehe Abbildung pag. 486). Einen Monat später bewundert man die
Blüthen der Iris oder Ayame und des Calamus oder Shobu. Im Juni
erscheinen die schönen grossen Blüthen des von Dichtern so viel be-
sungenen Botan (Paeonia Mutan) und der Hasu oder Lotosblume
(Nelumbium speciosum), dann folgen im August und September
blühende Hibiscus-Arten, insbesondere der Fuyô (H. mutabilis), denen
sich Susuki (Eulalia japonica) und andere Herbstblumen anschliessen.
Im October aber sehen wir, wie bereits hervorgehoben wurde, Kiku-
no-hana, die Blüthen des Chrysanthemum; auch färbt sich in diesem
Monat das Laub vom Momiji (Acer polymorphum) und anderer Ge-
wächse prächtig roth. Im November und December blühen Sasanqua
und Cha (Camellia sasanqua und Thea chinensis), und endlich im
Januar — in Gärten wenigstens — die gewöhnlichen Camellien.
Für die Bewohner der Hauptstadt Tôkio kommen noch zwei an-
dere Feste in Betracht, welche eine ungewöhnlich grosse Volksan-
sammlung bewirken, nämlich die sogenannte Eröffnung des Sumidagawa
und das Fest von Kudan. Jenes findet am 28. Juni unterhalb der
Hauptbrücke Riôgoku-bashi statt. An den Ufern des Flusses, auf
den Brücken und zahlreichen Booten sammelt sich, sobald der Abend
herannaht, eine festlich gekleidete Menge dicht gedrängt, um das
Schauspiel eines grossen Feuerwerks auf dem Flusse zu geniessen.
Tausende von bunten Lampen erhellen ringsum die Nacht, welcher
eine leichte Brise vom Meere her angenehme Kühle bringt. Wenn
dann die Mitternacht bald herannaht, verzieht sich die ungeheuere
Menge friedlich und vergnügt. Kein wildes Geheul, keine Rauferei
der Heimkehrenden stört in den übrigen Stadttheilen die nächtliche
Ruhe, wie solches in Europa bei ähnlichen Anlässen so oft der Fall
ist. Das Fest beim Tempel Shokonsha dauert drei Tage, nämlich
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Rein, Johann Justus: Japan nach Reisen und Studien. Bd. 1. Leipzig, 1881, S. 511. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rein_japan01_1881/545>, abgerufen am 22.11.2024.
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