Glücksstern. Man stellt ein abgehauenes Bambusrohr mit seinen Zweigen und Blättern im Hofe oder Zimmer auf und schmückt die Krone mit Papierstreifen von fünferlei Farben, welche man mit Ge- dichten und Sprüchen beschrieben und an Tanabata gerichtet hat. Alle Familienglieder betheiligen sich dabei im Sonntagsstaate, selbst die kleinsten, denen man die Händchen führt, damit sie wenigstens ein Silben- oder Wortzeichen dem Sterne widmen und seine Huld sich sichern können*).
Kiku-no-sekku, Chrysanthemumfest, heisst das letzte der go-sekku im Jahre. Es wird am neunten Tage des neunten Monats gefeiert und fiel früher gegen Ende October, nach unserer Zeitrechnung, also in die Zeit, wo die Vegetation schon ihres meisten Schmuckes beraubt, aber die Kiku (Chrysanthemum indicum) in voller Blüthe standen. Zahlreich und höchst mannigfaltig, wie bei uns die Astern, sind nach Farbe, Grösse und Form der Blüthen die Spielarten dieser Lieblingsblume des japanischen Volkes, zu deren Betrachtung und Bewunderung an den Stellen, die ihrer Cultur und ihrem Verkauf seit lange gewidmet sind, die fröhliche, buntgekleidete Menge herbeiströmt.
Eine solche Freude am Anblick schöner Blumen überhaupt, wie sie das japanische Volk bekundet, kennt keine andere Nation. Auf den Abends abgehaltenen hana-ichi oder Blumenmärkten besteht die Mehrzahl der Käufer aus gewöhnlichen Leuten, denen es zu Hause wohl an kostbaren Vasen, nicht aber an einem Stück Bambus- rohr gebricht, um das blühende Reis oder die langgestielte Blume hineinzustecken und mit Wohlgefallen zu betrachten. Zur Zeit, wo an diesem oder jenem bekannten Orte die eine oder die andere Lieb- lingspflanze ihre Blüthen entfaltet, stattet der Stelle Jedermann, der abkommen kann, seinen Besuch ab. Voll fröhlicher, festlich geklei- deter Menschen jedes Standes und Alters sind dann die Wege, welche nach solchen Blumenorten hinführen. Eine solche Menge glücklich aussehender Menschen, wie sie sich dann in den vielen Theebuden und Wirthshäusern solcher Blumenstätten sammeln, kann man schwer- lich anderswo beisammen sehen; Menschen, die ohne Rückblick auf gestern und ohne Sorgen für morgen, wie es vor zwei Jahren in einer Zeitung von Yokohama hiess, sich in kindlich ungezwungener, harmloser Heiterkeit dem Naturgenusse hingeben, die, wie verschie- den auch ihre gesellschaftliche Stellung, Mittel und Bildung sein mögen, doch Alle diese Freude theilen.
*) Ob die Sitte, wie hier angegeben und wie ich sie 1875 in Owari kennen lernte, im ganzen Lande besteht, konnte ich nicht in Erfahrung bringen.
II. Ethnographie.
Glücksstern. Man stellt ein abgehauenes Bambusrohr mit seinen Zweigen und Blättern im Hofe oder Zimmer auf und schmückt die Krone mit Papierstreifen von fünferlei Farben, welche man mit Ge- dichten und Sprüchen beschrieben und an Tanabata gerichtet hat. Alle Familienglieder betheiligen sich dabei im Sonntagsstaate, selbst die kleinsten, denen man die Händchen führt, damit sie wenigstens ein Silben- oder Wortzeichen dem Sterne widmen und seine Huld sich sichern können*).
Kiku-no-sekku, Chrysanthemumfest, heisst das letzte der go-sekku im Jahre. Es wird am neunten Tage des neunten Monats gefeiert und fiel früher gegen Ende October, nach unserer Zeitrechnung, also in die Zeit, wo die Vegetation schon ihres meisten Schmuckes beraubt, aber die Kiku (Chrysanthemum indicum) in voller Blüthe standen. Zahlreich und höchst mannigfaltig, wie bei uns die Astern, sind nach Farbe, Grösse und Form der Blüthen die Spielarten dieser Lieblingsblume des japanischen Volkes, zu deren Betrachtung und Bewunderung an den Stellen, die ihrer Cultur und ihrem Verkauf seit lange gewidmet sind, die fröhliche, buntgekleidete Menge herbeiströmt.
Eine solche Freude am Anblick schöner Blumen überhaupt, wie sie das japanische Volk bekundet, kennt keine andere Nation. Auf den Abends abgehaltenen hana-ichi oder Blumenmärkten besteht die Mehrzahl der Käufer aus gewöhnlichen Leuten, denen es zu Hause wohl an kostbaren Vasen, nicht aber an einem Stück Bambus- rohr gebricht, um das blühende Reis oder die langgestielte Blume hineinzustecken und mit Wohlgefallen zu betrachten. Zur Zeit, wo an diesem oder jenem bekannten Orte die eine oder die andere Lieb- lingspflanze ihre Blüthen entfaltet, stattet der Stelle Jedermann, der abkommen kann, seinen Besuch ab. Voll fröhlicher, festlich geklei- deter Menschen jedes Standes und Alters sind dann die Wege, welche nach solchen Blumenorten hinführen. Eine solche Menge glücklich aussehender Menschen, wie sie sich dann in den vielen Theebuden und Wirthshäusern solcher Blumenstätten sammeln, kann man schwer- lich anderswo beisammen sehen; Menschen, die ohne Rückblick auf gestern und ohne Sorgen für morgen, wie es vor zwei Jahren in einer Zeitung von Yokohama hiess, sich in kindlich ungezwungener, harmloser Heiterkeit dem Naturgenusse hingeben, die, wie verschie- den auch ihre gesellschaftliche Stellung, Mittel und Bildung sein mögen, doch Alle diese Freude theilen.
*) Ob die Sitte, wie hier angegeben und wie ich sie 1875 in Owari kennen lernte, im ganzen Lande besteht, konnte ich nicht in Erfahrung bringen.
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II. Ethnographie.
Glücksstern. Man stellt ein abgehauenes Bambusrohr mit seinen
Zweigen und Blättern im Hofe oder Zimmer auf und schmückt die
Krone mit Papierstreifen von fünferlei Farben, welche man mit Ge-
dichten und Sprüchen beschrieben und an Tanabata gerichtet hat.
Alle Familienglieder betheiligen sich dabei im Sonntagsstaate, selbst
die kleinsten, denen man die Händchen führt, damit sie wenigstens
ein Silben- oder Wortzeichen dem Sterne widmen und seine Huld
sich sichern können *).
Kiku-no-sekku, Chrysanthemumfest, heisst das letzte
der go-sekku im Jahre. Es wird am neunten Tage des neunten
Monats gefeiert und fiel früher gegen Ende October, nach unserer
Zeitrechnung, also in die Zeit, wo die Vegetation schon ihres meisten
Schmuckes beraubt, aber die Kiku (Chrysanthemum indicum) in voller
Blüthe standen. Zahlreich und höchst mannigfaltig, wie bei uns
die Astern, sind nach Farbe, Grösse und Form der Blüthen die
Spielarten dieser Lieblingsblume des japanischen Volkes, zu deren
Betrachtung und Bewunderung an den Stellen, die ihrer Cultur und
ihrem Verkauf seit lange gewidmet sind, die fröhliche, buntgekleidete
Menge herbeiströmt.
Eine solche Freude am Anblick schöner Blumen überhaupt, wie
sie das japanische Volk bekundet, kennt keine andere Nation. Auf
den Abends abgehaltenen hana-ichi oder Blumenmärkten besteht
die Mehrzahl der Käufer aus gewöhnlichen Leuten, denen es zu
Hause wohl an kostbaren Vasen, nicht aber an einem Stück Bambus-
rohr gebricht, um das blühende Reis oder die langgestielte Blume
hineinzustecken und mit Wohlgefallen zu betrachten. Zur Zeit, wo
an diesem oder jenem bekannten Orte die eine oder die andere Lieb-
lingspflanze ihre Blüthen entfaltet, stattet der Stelle Jedermann, der
abkommen kann, seinen Besuch ab. Voll fröhlicher, festlich geklei-
deter Menschen jedes Standes und Alters sind dann die Wege, welche
nach solchen Blumenorten hinführen. Eine solche Menge glücklich
aussehender Menschen, wie sie sich dann in den vielen Theebuden
und Wirthshäusern solcher Blumenstätten sammeln, kann man schwer-
lich anderswo beisammen sehen; Menschen, die ohne Rückblick auf
gestern und ohne Sorgen für morgen, wie es vor zwei Jahren in
einer Zeitung von Yokohama hiess, sich in kindlich ungezwungener,
harmloser Heiterkeit dem Naturgenusse hingeben, die, wie verschie-
den auch ihre gesellschaftliche Stellung, Mittel und Bildung sein
mögen, doch Alle diese Freude theilen.
*) Ob die Sitte, wie hier angegeben und wie ich sie 1875 in Owari kennen
lernte, im ganzen Lande besteht, konnte ich nicht in Erfahrung bringen.
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Rein, Johann Justus: Japan nach Reisen und Studien. Bd. 1. Leipzig, 1881, S. 510. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rein_japan01_1881/544>, abgerufen am 25.11.2024.
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