schaffte man die Standesschranken gegen die Verehelichung ab und räumte zwei Jahre später der Frau das Recht ein, Klagen auf Ehe- scheidung vor Gericht bringen zu können. Mehr jedoch als solche Gesetze hat das Beispiel zur Hebung der Stellung des Weibes schon beigetragen. Minister und andere hohe Beamte erscheinen seit Jahren mit ihren Frauen in Gesellschaften, auch bei Europäern, und diese sehen mit Staunen und Verwunderung das "ladylike behaviour", den feinen Anstand und die freie, ungezwungene Art, womit die japani- schen Damen dabei auftreten.
Japanische Mütter haben in der Regel reichlich Nahrung für ihre Kinder und säugen sie, bis dieselben 2--5 Jahre alt sind und sich von selbst entwöhnen. Wie das Lamm in der Heerde verlässt ein solcher kleiner Springer plötzlich seine Gespielen, um zur nahen Mutter zu eilen und stehend oder knieend einige kräftige Züge aus deren Brust zu thun, die ihm nie verweigert werden. Es mag dieses lange Stillen zum Theil darin begründet sein, dass eine andere ge- eignete Kindesnahrung in Form thierischer Milch fehlt.
Viele Kinder sterben in früher Jugend, nicht sowohl aus Mangel an Hingebung als vielmehr an Verständniss der Eltern für eine richtige Pflege. Die Kleidung derselben gleicht nach Mode und Schnitt der- jenigen von Erwachsenen, doch bewegen sich im übrigen die Kleinen viel freier als diese.
Kuss und Händedruck sind in der japanischen Familie, wie in der polynesischen, unbekannte Zärtlichkeitsäusserungen. Dennoch hat Alcock mit Recht Japan das Paradies der Kinder genannt. Ihre Erziehung wird mit grosser Ruhe und Milde geleitet. Heftige Affects- äusserungen und körperliche Züchtigung sind gesellschaftlich verpönt. Wenn eine Nation in diesem Punkte es weit gebracht hat, so ist es die japanische. Hier werden die Eltern zu Kindern und freuen sich eben so am Kreiselschnurren, Drachensteigen etc. wie diese. Es ist ein schöner Anblick an sonnigen Nachmittagen, zur Zeit, wenn diese oder jene Lieblingspflanze des Volkes bei schön gelegenen Thee- häusern oder Tempeln in voller Blüthe steht, Schaaren des Volkes festlich geschmückt, familienweise heranrücken zu sehen, um sich des schönen Anblickes zu erfreuen. Welche friedliche, glückliche Stimmung spiegeln nicht die Gesichter ab bei Jung und Alt! wie unablässig bemüht sind nicht die Eltern, den Kindern Freude zu machen, an ihren Spielen theilzunehmen, sie mit Süssigkeiten zu ver- sehen, während sich die meisten von ihnen mit einem leichten Auf- guss von Thee oder einer Schale warmen Wassers und ihrem Pfeif- chen begnügen!
II. Ethnographie.
schaffte man die Standesschranken gegen die Verehelichung ab und räumte zwei Jahre später der Frau das Recht ein, Klagen auf Ehe- scheidung vor Gericht bringen zu können. Mehr jedoch als solche Gesetze hat das Beispiel zur Hebung der Stellung des Weibes schon beigetragen. Minister und andere hohe Beamte erscheinen seit Jahren mit ihren Frauen in Gesellschaften, auch bei Europäern, und diese sehen mit Staunen und Verwunderung das »ladylike behaviour«, den feinen Anstand und die freie, ungezwungene Art, womit die japani- schen Damen dabei auftreten.
Japanische Mütter haben in der Regel reichlich Nahrung für ihre Kinder und säugen sie, bis dieselben 2—5 Jahre alt sind und sich von selbst entwöhnen. Wie das Lamm in der Heerde verlässt ein solcher kleiner Springer plötzlich seine Gespielen, um zur nahen Mutter zu eilen und stehend oder knieend einige kräftige Züge aus deren Brust zu thun, die ihm nie verweigert werden. Es mag dieses lange Stillen zum Theil darin begründet sein, dass eine andere ge- eignete Kindesnahrung in Form thierischer Milch fehlt.
Viele Kinder sterben in früher Jugend, nicht sowohl aus Mangel an Hingebung als vielmehr an Verständniss der Eltern für eine richtige Pflege. Die Kleidung derselben gleicht nach Mode und Schnitt der- jenigen von Erwachsenen, doch bewegen sich im übrigen die Kleinen viel freier als diese.
Kuss und Händedruck sind in der japanischen Familie, wie in der polynesischen, unbekannte Zärtlichkeitsäusserungen. Dennoch hat Alcock mit Recht Japan das Paradies der Kinder genannt. Ihre Erziehung wird mit grosser Ruhe und Milde geleitet. Heftige Affects- äusserungen und körperliche Züchtigung sind gesellschaftlich verpönt. Wenn eine Nation in diesem Punkte es weit gebracht hat, so ist es die japanische. Hier werden die Eltern zu Kindern und freuen sich eben so am Kreiselschnurren, Drachensteigen etc. wie diese. Es ist ein schöner Anblick an sonnigen Nachmittagen, zur Zeit, wenn diese oder jene Lieblingspflanze des Volkes bei schön gelegenen Thee- häusern oder Tempeln in voller Blüthe steht, Schaaren des Volkes festlich geschmückt, familienweise heranrücken zu sehen, um sich des schönen Anblickes zu erfreuen. Welche friedliche, glückliche Stimmung spiegeln nicht die Gesichter ab bei Jung und Alt! wie unablässig bemüht sind nicht die Eltern, den Kindern Freude zu machen, an ihren Spielen theilzunehmen, sie mit Süssigkeiten zu ver- sehen, während sich die meisten von ihnen mit einem leichten Auf- guss von Thee oder einer Schale warmen Wassers und ihrem Pfeif- chen begnügen!
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II. Ethnographie.
schaffte man die Standesschranken gegen die Verehelichung ab und
räumte zwei Jahre später der Frau das Recht ein, Klagen auf Ehe-
scheidung vor Gericht bringen zu können. Mehr jedoch als solche
Gesetze hat das Beispiel zur Hebung der Stellung des Weibes schon
beigetragen. Minister und andere hohe Beamte erscheinen seit Jahren
mit ihren Frauen in Gesellschaften, auch bei Europäern, und diese
sehen mit Staunen und Verwunderung das »ladylike behaviour«, den
feinen Anstand und die freie, ungezwungene Art, womit die japani-
schen Damen dabei auftreten.
Japanische Mütter haben in der Regel reichlich Nahrung für
ihre Kinder und säugen sie, bis dieselben 2—5 Jahre alt sind und
sich von selbst entwöhnen. Wie das Lamm in der Heerde verlässt
ein solcher kleiner Springer plötzlich seine Gespielen, um zur nahen
Mutter zu eilen und stehend oder knieend einige kräftige Züge aus
deren Brust zu thun, die ihm nie verweigert werden. Es mag dieses
lange Stillen zum Theil darin begründet sein, dass eine andere ge-
eignete Kindesnahrung in Form thierischer Milch fehlt.
Viele Kinder sterben in früher Jugend, nicht sowohl aus Mangel
an Hingebung als vielmehr an Verständniss der Eltern für eine richtige
Pflege. Die Kleidung derselben gleicht nach Mode und Schnitt der-
jenigen von Erwachsenen, doch bewegen sich im übrigen die Kleinen
viel freier als diese.
Kuss und Händedruck sind in der japanischen Familie, wie in
der polynesischen, unbekannte Zärtlichkeitsäusserungen. Dennoch hat
Alcock mit Recht Japan das Paradies der Kinder genannt. Ihre
Erziehung wird mit grosser Ruhe und Milde geleitet. Heftige Affects-
äusserungen und körperliche Züchtigung sind gesellschaftlich verpönt.
Wenn eine Nation in diesem Punkte es weit gebracht hat, so ist es
die japanische. Hier werden die Eltern zu Kindern und freuen sich
eben so am Kreiselschnurren, Drachensteigen etc. wie diese. Es ist
ein schöner Anblick an sonnigen Nachmittagen, zur Zeit, wenn diese
oder jene Lieblingspflanze des Volkes bei schön gelegenen Thee-
häusern oder Tempeln in voller Blüthe steht, Schaaren des Volkes
festlich geschmückt, familienweise heranrücken zu sehen, um sich
des schönen Anblickes zu erfreuen. Welche friedliche, glückliche
Stimmung spiegeln nicht die Gesichter ab bei Jung und Alt! wie
unablässig bemüht sind nicht die Eltern, den Kindern Freude zu
machen, an ihren Spielen theilzunehmen, sie mit Süssigkeiten zu ver-
sehen, während sich die meisten von ihnen mit einem leichten Auf-
guss von Thee oder einer Schale warmen Wassers und ihrem Pfeif-
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Rein, Johann Justus: Japan nach Reisen und Studien. Bd. 1. Leipzig, 1881, S. 494. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rein_japan01_1881/528>, abgerufen am 22.11.2024.
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