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Rein, Johann Justus: Japan nach Reisen und Studien. Bd. 1. Leipzig, 1881.

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3. Kleidung, Wohnung und Nahrung der Japaner etc.
vornahmen, und diese wussten ebenfalls, dass sie damit keine gute
Sitte des Landes verletzten. Die Schamhaftigkeit ist ohne Zweifel
ein Erzeugniss des gesellschaftlichen Lebens und der Civilisation, wie
schon Rousseau hervorgehoben hat. Sie ist kein Criterion der Sitt-
lichkeit, tritt in verschiedenen Gestalten auf und ändert sich mit der
Bildung der Menschen und mit dem Klima, unter welchem sie zu
leben haben.

Ohne Zweifel trägt die regelmässige Benutzung warmer Bäder
bei den Japanern viel zur Erhaltung und Förderung ihrer Gesundheit
bei. Rheumatische Leiden, zu welchen die Arbeiten in den Reisfeldern,
der Fischfang und andere Beschäftigungen, sowie unzweckmässige
Hauseinrichtungen für die kalte Jahreszeit reichlich beitragen könnten,
werden meist im Keime erstickt und sind desshalb viel seltener als
bei uns. Ein anderes Mittel, denselben und verschiedenen anderen
Leiden entgegenzuwirken, ist das Schampuieren (Kneten der Muskeln
und Recken der Glieder) oder amma, welches sich oft dem Bade
anschliesst. Es wird allgemein von Blinden ausgeführt, deren Zahl
sehr gross ist und die sich davon nähren *). Sobald der Abend herein-
bricht und oft noch spät in die Nacht hinein sieht und hört man sie
mit ihren langen Bambusstäben die Strassen der Stadt durchschreiten
und auf einer Art Flöte monotone Töne pfeifen. Oft rufen sie amma-
san! (Knet-Herr!) oder momi-rioji (Schampuierungs-Heilverfahren!),
auch wohl amma kami shimo ni-ju-shi mon! (d. h. Kneten von
oben bis unten für 24 mon oder 1 1/5 Pfennig! **). Das ist selbst für
japanische Verhältnisse sehr billig und geschieht nur von angehenden
amma-san, die noch keine Kundschaft haben. Blinde Frauen kommen
nur auf Bestellung und rufen nicht in den Strassen.

Ein Gesundheitsmittel ganz anderer Art ist die Moxa oder Mokusa
(japanisch jaito oder kiu). Oft erblicken wir auf den nackten Armen,
Schultern, Rücken oder posteriora der japanischen ninsoku (Kuli's)
und Landleute Narben von der Grösse eines Markstückes oder darüber
von Brandwunden, die als Zugpflaster, um Krankheiten vorzubeugen
oder solche von anderen Körpertheilen abzuleiten, gebraucht wurden.
Das Verfahren besteht darin, dass auf die betreffenden Stellen eine

*) Mekura (Blinde) oder mojin, wie sich dieselben lieber nennen, sind zu
einem ansehnlichen Theile bei der Blatternkrankheit um ihr Augenlicht gekommen
und viel zahlreicher als die oshi oder Taubstummen.
**) Die japanische Münzeinheit, der yen, rio oder Dollar, hat 4 bu oder
100 sen, der sen 100 mon. Früher gab es einzelne Monstücke in Eisen, 20-, 15-
und 10-Monstücke in Bronze, jetzt prägt man dieselben nur noch in Kupfer von
10, 15 und 20 mon.

3. Kleidung, Wohnung und Nahrung der Japaner etc.
vornahmen, und diese wussten ebenfalls, dass sie damit keine gute
Sitte des Landes verletzten. Die Schamhaftigkeit ist ohne Zweifel
ein Erzeugniss des gesellschaftlichen Lebens und der Civilisation, wie
schon Rousseau hervorgehoben hat. Sie ist kein Criterion der Sitt-
lichkeit, tritt in verschiedenen Gestalten auf und ändert sich mit der
Bildung der Menschen und mit dem Klima, unter welchem sie zu
leben haben.

Ohne Zweifel trägt die regelmässige Benutzung warmer Bäder
bei den Japanern viel zur Erhaltung und Förderung ihrer Gesundheit
bei. Rheumatische Leiden, zu welchen die Arbeiten in den Reisfeldern,
der Fischfang und andere Beschäftigungen, sowie unzweckmässige
Hauseinrichtungen für die kalte Jahreszeit reichlich beitragen könnten,
werden meist im Keime erstickt und sind desshalb viel seltener als
bei uns. Ein anderes Mittel, denselben und verschiedenen anderen
Leiden entgegenzuwirken, ist das Schampuieren (Kneten der Muskeln
und Recken der Glieder) oder amma, welches sich oft dem Bade
anschliesst. Es wird allgemein von Blinden ausgeführt, deren Zahl
sehr gross ist und die sich davon nähren *). Sobald der Abend herein-
bricht und oft noch spät in die Nacht hinein sieht und hört man sie
mit ihren langen Bambusstäben die Strassen der Stadt durchschreiten
und auf einer Art Flöte monotone Töne pfeifen. Oft rufen sie amma-
san! (Knet-Herr!) oder momi-riôji (Schampuierungs-Heilverfahren!),
auch wohl amma kami shimo ni-ju-shi mon! (d. h. Kneten von
oben bis unten für 24 mon oder 1⅕ Pfennig! **). Das ist selbst für
japanische Verhältnisse sehr billig und geschieht nur von angehenden
amma-san, die noch keine Kundschaft haben. Blinde Frauen kommen
nur auf Bestellung und rufen nicht in den Strassen.

Ein Gesundheitsmittel ganz anderer Art ist die Moxa oder Mokusa
(japanisch jaito oder kiu). Oft erblicken wir auf den nackten Armen,
Schultern, Rücken oder posteriora der japanischen ninsoku (Kuli’s)
und Landleute Narben von der Grösse eines Markstückes oder darüber
von Brandwunden, die als Zugpflaster, um Krankheiten vorzubeugen
oder solche von anderen Körpertheilen abzuleiten, gebraucht wurden.
Das Verfahren besteht darin, dass auf die betreffenden Stellen eine

*) Mekura (Blinde) oder môjin, wie sich dieselben lieber nennen, sind zu
einem ansehnlichen Theile bei der Blatternkrankheit um ihr Augenlicht gekommen
und viel zahlreicher als die oshi oder Taubstummen.
**) Die japanische Münzeinheit, der yen, rio oder Dollar, hat 4 bu oder
100 sen, der sen 100 mon. Früher gab es einzelne Monstücke in Eisen, 20-, 15-
und 10-Monstücke in Bronze, jetzt prägt man dieselben nur noch in Kupfer von
10, 15 und 20 mon.
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[479/0513] 3. Kleidung, Wohnung und Nahrung der Japaner etc. vornahmen, und diese wussten ebenfalls, dass sie damit keine gute Sitte des Landes verletzten. Die Schamhaftigkeit ist ohne Zweifel ein Erzeugniss des gesellschaftlichen Lebens und der Civilisation, wie schon Rousseau hervorgehoben hat. Sie ist kein Criterion der Sitt- lichkeit, tritt in verschiedenen Gestalten auf und ändert sich mit der Bildung der Menschen und mit dem Klima, unter welchem sie zu leben haben. Ohne Zweifel trägt die regelmässige Benutzung warmer Bäder bei den Japanern viel zur Erhaltung und Förderung ihrer Gesundheit bei. Rheumatische Leiden, zu welchen die Arbeiten in den Reisfeldern, der Fischfang und andere Beschäftigungen, sowie unzweckmässige Hauseinrichtungen für die kalte Jahreszeit reichlich beitragen könnten, werden meist im Keime erstickt und sind desshalb viel seltener als bei uns. Ein anderes Mittel, denselben und verschiedenen anderen Leiden entgegenzuwirken, ist das Schampuieren (Kneten der Muskeln und Recken der Glieder) oder amma, welches sich oft dem Bade anschliesst. Es wird allgemein von Blinden ausgeführt, deren Zahl sehr gross ist und die sich davon nähren *). Sobald der Abend herein- bricht und oft noch spät in die Nacht hinein sieht und hört man sie mit ihren langen Bambusstäben die Strassen der Stadt durchschreiten und auf einer Art Flöte monotone Töne pfeifen. Oft rufen sie amma- san! (Knet-Herr!) oder momi-riôji (Schampuierungs-Heilverfahren!), auch wohl amma kami shimo ni-ju-shi mon! (d. h. Kneten von oben bis unten für 24 mon oder 1⅕ Pfennig! **). Das ist selbst für japanische Verhältnisse sehr billig und geschieht nur von angehenden amma-san, die noch keine Kundschaft haben. Blinde Frauen kommen nur auf Bestellung und rufen nicht in den Strassen. Ein Gesundheitsmittel ganz anderer Art ist die Moxa oder Mokusa (japanisch jaito oder kiu). Oft erblicken wir auf den nackten Armen, Schultern, Rücken oder posteriora der japanischen ninsoku (Kuli’s) und Landleute Narben von der Grösse eines Markstückes oder darüber von Brandwunden, die als Zugpflaster, um Krankheiten vorzubeugen oder solche von anderen Körpertheilen abzuleiten, gebraucht wurden. Das Verfahren besteht darin, dass auf die betreffenden Stellen eine *) Mekura (Blinde) oder môjin, wie sich dieselben lieber nennen, sind zu einem ansehnlichen Theile bei der Blatternkrankheit um ihr Augenlicht gekommen und viel zahlreicher als die oshi oder Taubstummen. **) Die japanische Münzeinheit, der yen, rio oder Dollar, hat 4 bu oder 100 sen, der sen 100 mon. Früher gab es einzelne Monstücke in Eisen, 20-, 15- und 10-Monstücke in Bronze, jetzt prägt man dieselben nur noch in Kupfer von 10, 15 und 20 mon.

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Zitationshilfe: Rein, Johann Justus: Japan nach Reisen und Studien. Bd. 1. Leipzig, 1881, S. 479. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rein_japan01_1881/513>, abgerufen am 25.08.2024.