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Rein, Johann Justus: Japan nach Reisen und Studien. Bd. 1. Leipzig, 1881.

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II. Ethnographie.
ein Familienfest, bei welchem die Stirnlocken abrasiert, der Knabe
zum Mann erklärt und mit einem anderen Namen versehen wurde *).
Fortan stand er als Erwachsener bezüglich seiner Haartracht unter
anderen Regeln. Stirn und Scheitel wurden glatt rasiert, das Haar
des Hinterhauptes aber sorgfältig eingeölt, nach dem Scheitel ge-
kämmt und hier zu einem kleinen Horn oder Zopf, dem mage, ver-
einigt, der durch einen breiten schwarzen Ring aus Lederpapier führt
und auf dem kahlen Scheitel ruht und endet. Diese Haartracht gab
vielen Haarkünstlern Arbeit und Verdienst und war ausserdem sehr
zeitraubend. Daher verbreitet sich mehr und mehr die europäische
Sitte, wonach die Männer das Kopfhaar nur dem Kamm und der
Scheere unterstellen. Die Frauen aber sind, wie in ihrer Kleidung,
so auch in ihrem Haarschmuck der alten Sitte treu geblieben; nur
das Schwärzen der Zähne nimmt mit Recht ab.

Das Glattrasieren des Gesichtes, Jahrhunderte lang allgemeine
Sitte, hat ebenfalls bei vielen Männern schon aufgehört. Man trägt
einen hige oder Knebelbart oder auch einen Vollbart, wenn er, was
selten der Fall ist, wächst, und nähert sich so wieder der alten
Sitte, wie sie vor Yoritomo bestand.

Die Reinlichkeit des Japaners ist eine seiner empfehlens-
werthesten Eigenschaften. Sie zeigt sich an seinem Körper, im Hause,
in der Werkstatt, wie nicht minder in der grossen Sorgfalt und
mustergültigen Genauigkeit, womit er seine Felder pflegt.

Jeder Japaner, ob hoch oder niedrig, nimmt womöglich täglich
sein warmes Bad (yu). Die dabei beliebte Temperatur des Wassers
wechselt zwischen 38° und 45°C., ist also für unser Gefühl eine
unerträglich hohe **). In kaltem oder lauwarmem Wasser badet für
gewöhnlich Niemand, weder der Landmann, welcher doch durch seine
Arbeit im schlammigen Reisfelde gewöhnt ist, stundenlang barfuss in
solchem zu stehen, noch der Ninsoku (Kulie), obgleich er halbnackend
die Winterkälte aushält. Nur ausnahmsweise, z. B. wenn es sich
um eine selbstauferlegte Bussübung handelt oder um die Erfüllung
eines Gelübdes, wird ein kaltes Bad genommen. So pflegten früher
die Pilger, welche den Nantai-san bei Nikko besteigen wollten, sich
der Vorschrift gemäss vorher im Chiuzenji-See zu baden. Auch sah

*) Das Fest des ersten Haarschnittes wird auch in Indien mit grossem Ge-
pränge und unter Vertheilung von Geschenken gefeiert, fällt hier jedoch in das
10. oder 11. Jahr.
**) Hohe Temperaturen für warme Bäder sind übrigens auch bei anderen
Orientalen beliebt. So erzählt z. B. Kanitz von den Türken, dass sie sich in
Wasser von 31° R. (39°C.) und darüber zu baden pflegen.

II. Ethnographie.
ein Familienfest, bei welchem die Stirnlocken abrasiert, der Knabe
zum Mann erklärt und mit einem anderen Namen versehen wurde *).
Fortan stand er als Erwachsener bezüglich seiner Haartracht unter
anderen Regeln. Stirn und Scheitel wurden glatt rasiert, das Haar
des Hinterhauptes aber sorgfältig eingeölt, nach dem Scheitel ge-
kämmt und hier zu einem kleinen Horn oder Zopf, dem mage, ver-
einigt, der durch einen breiten schwarzen Ring aus Lederpapier führt
und auf dem kahlen Scheitel ruht und endet. Diese Haartracht gab
vielen Haarkünstlern Arbeit und Verdienst und war ausserdem sehr
zeitraubend. Daher verbreitet sich mehr und mehr die europäische
Sitte, wonach die Männer das Kopfhaar nur dem Kamm und der
Scheere unterstellen. Die Frauen aber sind, wie in ihrer Kleidung,
so auch in ihrem Haarschmuck der alten Sitte treu geblieben; nur
das Schwärzen der Zähne nimmt mit Recht ab.

Das Glattrasieren des Gesichtes, Jahrhunderte lang allgemeine
Sitte, hat ebenfalls bei vielen Männern schon aufgehört. Man trägt
einen hige oder Knebelbart oder auch einen Vollbart, wenn er, was
selten der Fall ist, wächst, und nähert sich so wieder der alten
Sitte, wie sie vor Yoritomo bestand.

Die Reinlichkeit des Japaners ist eine seiner empfehlens-
werthesten Eigenschaften. Sie zeigt sich an seinem Körper, im Hause,
in der Werkstatt, wie nicht minder in der grossen Sorgfalt und
mustergültigen Genauigkeit, womit er seine Felder pflegt.

Jeder Japaner, ob hoch oder niedrig, nimmt womöglich täglich
sein warmes Bad (yu). Die dabei beliebte Temperatur des Wassers
wechselt zwischen 38° und 45°C., ist also für unser Gefühl eine
unerträglich hohe **). In kaltem oder lauwarmem Wasser badet für
gewöhnlich Niemand, weder der Landmann, welcher doch durch seine
Arbeit im schlammigen Reisfelde gewöhnt ist, stundenlang barfuss in
solchem zu stehen, noch der Ninsoku (Kulie), obgleich er halbnackend
die Winterkälte aushält. Nur ausnahmsweise, z. B. wenn es sich
um eine selbstauferlegte Bussübung handelt oder um die Erfüllung
eines Gelübdes, wird ein kaltes Bad genommen. So pflegten früher
die Pilger, welche den Nantai-san bei Nikkô besteigen wollten, sich
der Vorschrift gemäss vorher im Chiuzenji-See zu baden. Auch sah

*) Das Fest des ersten Haarschnittes wird auch in Indien mit grossem Ge-
pränge und unter Vertheilung von Geschenken gefeiert, fällt hier jedoch in das
10. oder 11. Jahr.
**) Hohe Temperaturen für warme Bäder sind übrigens auch bei anderen
Orientalen beliebt. So erzählt z. B. Kanitz von den Türken, dass sie sich in
Wasser von 31° R. (39°C.) und darüber zu baden pflegen.
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[476/0510] II. Ethnographie. ein Familienfest, bei welchem die Stirnlocken abrasiert, der Knabe zum Mann erklärt und mit einem anderen Namen versehen wurde *). Fortan stand er als Erwachsener bezüglich seiner Haartracht unter anderen Regeln. Stirn und Scheitel wurden glatt rasiert, das Haar des Hinterhauptes aber sorgfältig eingeölt, nach dem Scheitel ge- kämmt und hier zu einem kleinen Horn oder Zopf, dem mage, ver- einigt, der durch einen breiten schwarzen Ring aus Lederpapier führt und auf dem kahlen Scheitel ruht und endet. Diese Haartracht gab vielen Haarkünstlern Arbeit und Verdienst und war ausserdem sehr zeitraubend. Daher verbreitet sich mehr und mehr die europäische Sitte, wonach die Männer das Kopfhaar nur dem Kamm und der Scheere unterstellen. Die Frauen aber sind, wie in ihrer Kleidung, so auch in ihrem Haarschmuck der alten Sitte treu geblieben; nur das Schwärzen der Zähne nimmt mit Recht ab. Das Glattrasieren des Gesichtes, Jahrhunderte lang allgemeine Sitte, hat ebenfalls bei vielen Männern schon aufgehört. Man trägt einen hige oder Knebelbart oder auch einen Vollbart, wenn er, was selten der Fall ist, wächst, und nähert sich so wieder der alten Sitte, wie sie vor Yoritomo bestand. Die Reinlichkeit des Japaners ist eine seiner empfehlens- werthesten Eigenschaften. Sie zeigt sich an seinem Körper, im Hause, in der Werkstatt, wie nicht minder in der grossen Sorgfalt und mustergültigen Genauigkeit, womit er seine Felder pflegt. Jeder Japaner, ob hoch oder niedrig, nimmt womöglich täglich sein warmes Bad (yu). Die dabei beliebte Temperatur des Wassers wechselt zwischen 38° und 45°C., ist also für unser Gefühl eine unerträglich hohe **). In kaltem oder lauwarmem Wasser badet für gewöhnlich Niemand, weder der Landmann, welcher doch durch seine Arbeit im schlammigen Reisfelde gewöhnt ist, stundenlang barfuss in solchem zu stehen, noch der Ninsoku (Kulie), obgleich er halbnackend die Winterkälte aushält. Nur ausnahmsweise, z. B. wenn es sich um eine selbstauferlegte Bussübung handelt oder um die Erfüllung eines Gelübdes, wird ein kaltes Bad genommen. So pflegten früher die Pilger, welche den Nantai-san bei Nikkô besteigen wollten, sich der Vorschrift gemäss vorher im Chiuzenji-See zu baden. Auch sah *) Das Fest des ersten Haarschnittes wird auch in Indien mit grossem Ge- pränge und unter Vertheilung von Geschenken gefeiert, fällt hier jedoch in das 10. oder 11. Jahr. **) Hohe Temperaturen für warme Bäder sind übrigens auch bei anderen Orientalen beliebt. So erzählt z. B. Kanitz von den Türken, dass sie sich in Wasser von 31° R. (39°C.) und darüber zu baden pflegen.

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Zitationshilfe: Rein, Johann Justus: Japan nach Reisen und Studien. Bd. 1. Leipzig, 1881, S. 476. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rein_japan01_1881/510>, abgerufen am 22.11.2024.