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Rein, Johann Justus: Japan nach Reisen und Studien. Bd. 1. Leipzig, 1881.

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2. Die japanische Sprache und Literatur etc.
dieselbe sicher erreicht werden kann. So nehmen sie eine oberfläch-
liche, äussere Politur an, während sie die Gediegenheit missachten.
Aus diesen Gründen haben unsere Leute in äusseren Dingen die
abendländische Civilisation vortrefflich nachgeahmt, aber dieselbe hat
keinen soliden Grund und desshalb keine Stabilität. Wer mit mir
dieser Frage einige Aufmerksamkeit schenken will, wird finden, dass
ihm überall Mangel an Gründlichkeit und Stetigkeit entgegen tritt".

Es gibt indess Beispiele genug, auf welche dieses Urteil nicht
passt, von jungen Japanern, welche mit einer Stetigkeit und Zähig-
keit ihre Ziele verfolgen und mit einer Ausdauer alle ihnen entgegen-
stehenden Schwierigkeiten überwinden, die unseren ganzen Beifall
verdienen. Bis jetzt zeigte Japan sich besonders talentvoll in der
Nachahmung und entwickelte wenig eigene schöpferische Kraft. Die
Producte seiner früheren Civilisation, seine Sitten, Gesetze, Literatur
und selbst alle Kunstgewerbe, in welchen es unübertroffen, ja uner-
reicht dasteht, wie die Lack- und Bronze-Industrie, feinere Töpferei
und Seidenweberei, entnahm es, wie fast alle anderen Industriezweige,
China. Jetzt copiert es das christliche Abendland. Wird es dadurch
zu einer freieren, selbständigen Stellung seines geistigen und ge-
werblichen Schaffens gelangen? Die Schule ist noch zu kurz, um
auf diese Frage eine sichere Antwort geben zu können. Man lasse
also dem strebsamen und talentvollen Schüler Zeit, denn "gut Ding
will Weile haben".


2. Die japanische Sprache und Literatur. Das Yamato- und
Sinico-japanisch. Katakana und Hirakana. Transliteration. Eigen-
thümlichkeiten der Sprache. Volkspoesie und Literatur.

Die jetzige Schrift- und Umgangssprache Japans besteht aus
dem eigenartigen Gemisch zweier sehr verschiedenen Idiome, deren
eines aus der alten Sprache des japanischen Volkes, dem Yamato
Kotoba
oder Nippon-no-Kotoba (Sprache Yamato's oder Nip-
pon's), das andere aus dem Chinesischen hervorging, etwa wie das
Englische aus teutonischen und romanischen Quellen zusammenfloss.
Wie beim gebildeten Engländer der in Anwendung kommende Wort-
schatz einen höheren Procentsatz romanischer Worte als teutonischer
aufweist, so bedient sich auch der besser unterrichtete Japaner,
wenigstens in der Schrift, vorzugsweise des chinesischen Theiles seines
Sprachconglomerats. Aber diese beiden Sprachelemente Japans, so

2. Die japanische Sprache und Literatur etc.
dieselbe sicher erreicht werden kann. So nehmen sie eine oberfläch-
liche, äussere Politur an, während sie die Gediegenheit missachten.
Aus diesen Gründen haben unsere Leute in äusseren Dingen die
abendländische Civilisation vortrefflich nachgeahmt, aber dieselbe hat
keinen soliden Grund und desshalb keine Stabilität. Wer mit mir
dieser Frage einige Aufmerksamkeit schenken will, wird finden, dass
ihm überall Mangel an Gründlichkeit und Stetigkeit entgegen tritt«.

Es gibt indess Beispiele genug, auf welche dieses Urteil nicht
passt, von jungen Japanern, welche mit einer Stetigkeit und Zähig-
keit ihre Ziele verfolgen und mit einer Ausdauer alle ihnen entgegen-
stehenden Schwierigkeiten überwinden, die unseren ganzen Beifall
verdienen. Bis jetzt zeigte Japan sich besonders talentvoll in der
Nachahmung und entwickelte wenig eigene schöpferische Kraft. Die
Producte seiner früheren Civilisation, seine Sitten, Gesetze, Literatur
und selbst alle Kunstgewerbe, in welchen es unübertroffen, ja uner-
reicht dasteht, wie die Lack- und Bronze-Industrie, feinere Töpferei
und Seidenweberei, entnahm es, wie fast alle anderen Industriezweige,
China. Jetzt copiert es das christliche Abendland. Wird es dadurch
zu einer freieren, selbständigen Stellung seines geistigen und ge-
werblichen Schaffens gelangen? Die Schule ist noch zu kurz, um
auf diese Frage eine sichere Antwort geben zu können. Man lasse
also dem strebsamen und talentvollen Schüler Zeit, denn »gut Ding
will Weile haben«.


2. Die japanische Sprache und Literatur. Das Yamato- und
Sinico-japanisch. Katakana und Hirakana. Transliteration. Eigen-
thümlichkeiten der Sprache. Volkspoesie und Literatur.

Die jetzige Schrift- und Umgangssprache Japans besteht aus
dem eigenartigen Gemisch zweier sehr verschiedenen Idiome, deren
eines aus der alten Sprache des japanischen Volkes, dem Yamato
Kotoba
oder Nippon-no-Kotoba (Sprache Yamato’s oder Nip-
pon’s), das andere aus dem Chinesischen hervorging, etwa wie das
Englische aus teutonischen und romanischen Quellen zusammenfloss.
Wie beim gebildeten Engländer der in Anwendung kommende Wort-
schatz einen höheren Procentsatz romanischer Worte als teutonischer
aufweist, so bedient sich auch der besser unterrichtete Japaner,
wenigstens in der Schrift, vorzugsweise des chinesischen Theiles seines
Sprachconglomerats. Aber diese beiden Sprachelemente Japans, so

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[459/0493] 2. Die japanische Sprache und Literatur etc. dieselbe sicher erreicht werden kann. So nehmen sie eine oberfläch- liche, äussere Politur an, während sie die Gediegenheit missachten. Aus diesen Gründen haben unsere Leute in äusseren Dingen die abendländische Civilisation vortrefflich nachgeahmt, aber dieselbe hat keinen soliden Grund und desshalb keine Stabilität. Wer mit mir dieser Frage einige Aufmerksamkeit schenken will, wird finden, dass ihm überall Mangel an Gründlichkeit und Stetigkeit entgegen tritt«. Es gibt indess Beispiele genug, auf welche dieses Urteil nicht passt, von jungen Japanern, welche mit einer Stetigkeit und Zähig- keit ihre Ziele verfolgen und mit einer Ausdauer alle ihnen entgegen- stehenden Schwierigkeiten überwinden, die unseren ganzen Beifall verdienen. Bis jetzt zeigte Japan sich besonders talentvoll in der Nachahmung und entwickelte wenig eigene schöpferische Kraft. Die Producte seiner früheren Civilisation, seine Sitten, Gesetze, Literatur und selbst alle Kunstgewerbe, in welchen es unübertroffen, ja uner- reicht dasteht, wie die Lack- und Bronze-Industrie, feinere Töpferei und Seidenweberei, entnahm es, wie fast alle anderen Industriezweige, China. Jetzt copiert es das christliche Abendland. Wird es dadurch zu einer freieren, selbständigen Stellung seines geistigen und ge- werblichen Schaffens gelangen? Die Schule ist noch zu kurz, um auf diese Frage eine sichere Antwort geben zu können. Man lasse also dem strebsamen und talentvollen Schüler Zeit, denn »gut Ding will Weile haben«. 2. Die japanische Sprache und Literatur. Das Yamato- und Sinico-japanisch. Katakana und Hirakana. Transliteration. Eigen- thümlichkeiten der Sprache. Volkspoesie und Literatur. Die jetzige Schrift- und Umgangssprache Japans besteht aus dem eigenartigen Gemisch zweier sehr verschiedenen Idiome, deren eines aus der alten Sprache des japanischen Volkes, dem Yamato Kotoba oder Nippon-no-Kotoba (Sprache Yamato’s oder Nip- pon’s), das andere aus dem Chinesischen hervorging, etwa wie das Englische aus teutonischen und romanischen Quellen zusammenfloss. Wie beim gebildeten Engländer der in Anwendung kommende Wort- schatz einen höheren Procentsatz romanischer Worte als teutonischer aufweist, so bedient sich auch der besser unterrichtete Japaner, wenigstens in der Schrift, vorzugsweise des chinesischen Theiles seines Sprachconglomerats. Aber diese beiden Sprachelemente Japans, so

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Zitationshilfe: Rein, Johann Justus: Japan nach Reisen und Studien. Bd. 1. Leipzig, 1881, S. 459. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rein_japan01_1881/493>, abgerufen am 22.11.2024.