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Rein, Johann Justus: Japan nach Reisen und Studien. Bd. 1. Leipzig, 1881.

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1. Ainos und Japaner, Ursprung, Körperbeschaffenheit etc.
Beurteiler gibt, dessen Erfahrungen und Ansichten volle Beachtung
verdienen.

Zu einem Anstandsgefühl, welches in vielen Stücken das der
meisten Europäer weit übertrifft, gesellt sich eine sorglose Blosstellung
der Person und Vieles, was wir geradezu unkeusch nennen. Der
allgemein verbreitete Geschmack an Blumen, landschaftlichen Schön-
heiten und Gegenständen der graphischen und bildenden Künste ist
gepaart mit grober Sinnlichkeit, deren verderbliche Folgen auch dem
Nichtarzte vielfach vor Augen treten. Neben warmer Vaterlandsliebe
und einem eigenthümlichen Rechtssinn bemerken wir eine grosse Ge-
neigtheit, die schlechteste Aufführung zu übersehen, und in der Be-
amtenwelt viel Bestechlichkeit und Nepotismus. Dem lebhaften Ver-
langen nach Kenntnissen und der Raschheit in ihrer Erwerbung steht
Mangel an Ausdauer gegenüber und an Geschick, dieselben zu ver-
werthen, soweit es sich nicht um blinde Nachahmung handelt. Zur
Oberflächlichkeit und Zusammenhangslosigkeit des Wissens gesellt
sich nicht selten eine unergründliche Verschlagenheit. Die japanische
Jugend ist die folgsamste, welche ich je kennen gelernt habe. In ihrer
Erziehung wird, wie bei der Behandlung des Viehes, das Schlagen
vermieden, das überhaupt verpönt ist, wie jede lärmende Aeusserung
des Affectes. Aber zu dieser Selbstbeherrschung, welche diejenige
unserer kalten Nordländer weit in den Schatten stellt, welche mit
lächelndem Munde Dinge besprechen kann, die unser Gemüth aufs
tiefste ergreifen, kommt eine kalte berechnende Grausamkeit, die das
Opfer überfällt und herzlos niederschlägt.

Bemerkenswerth ist das Urteil eines hochgebildeten und allge-
mein geachteten Franzosen *), der mehr als die meisten Fremden in
Japan Gelegenheit hatte, den Volkscharakter kennen zu lernen. Er
schreibt: "Das Privatleben (der Japaner) gleicht dem politischen, wie
es aus ihrer Geschichte zu erkennen ist, und beide gleichen den
klimatischen Zügen des Landes. Lange Perioden der Ruhe und
Schläfrigkeit wechseln mit plötzlichem Erwachen, mit ungestümen
Ausbrüchen ab. Eine natürliche Lethargie unterbrochen durch heftige
Stösse. Die Fanfaren des Carneval dringen mitten durch den Nebel
der Melancholie. Alles bestätigt ihnen ein Temperament ohne Gleich-
gewicht, Geister, die wie Schiffe auf dem Meere treiben, ohne Ballast,
träge Naturen, die ruck- und sprungweise sich fortbewegen. Viel
Liebe zu Vergnügen und Ueberraschungen! Abneigung gegen an-
dauernde Arbeit! Plötzlicher Aufschwung und plötzliches Erschlaffen

*) G. Bousquet: Le Japon de nos jours. Paris 1877.

1. Ainos und Japaner, Ursprung, Körperbeschaffenheit etc.
Beurteiler gibt, dessen Erfahrungen und Ansichten volle Beachtung
verdienen.

Zu einem Anstandsgefühl, welches in vielen Stücken das der
meisten Europäer weit übertrifft, gesellt sich eine sorglose Blosstellung
der Person und Vieles, was wir geradezu unkeusch nennen. Der
allgemein verbreitete Geschmack an Blumen, landschaftlichen Schön-
heiten und Gegenständen der graphischen und bildenden Künste ist
gepaart mit grober Sinnlichkeit, deren verderbliche Folgen auch dem
Nichtarzte vielfach vor Augen treten. Neben warmer Vaterlandsliebe
und einem eigenthümlichen Rechtssinn bemerken wir eine grosse Ge-
neigtheit, die schlechteste Aufführung zu übersehen, und in der Be-
amtenwelt viel Bestechlichkeit und Nepotismus. Dem lebhaften Ver-
langen nach Kenntnissen und der Raschheit in ihrer Erwerbung steht
Mangel an Ausdauer gegenüber und an Geschick, dieselben zu ver-
werthen, soweit es sich nicht um blinde Nachahmung handelt. Zur
Oberflächlichkeit und Zusammenhangslosigkeit des Wissens gesellt
sich nicht selten eine unergründliche Verschlagenheit. Die japanische
Jugend ist die folgsamste, welche ich je kennen gelernt habe. In ihrer
Erziehung wird, wie bei der Behandlung des Viehes, das Schlagen
vermieden, das überhaupt verpönt ist, wie jede lärmende Aeusserung
des Affectes. Aber zu dieser Selbstbeherrschung, welche diejenige
unserer kalten Nordländer weit in den Schatten stellt, welche mit
lächelndem Munde Dinge besprechen kann, die unser Gemüth aufs
tiefste ergreifen, kommt eine kalte berechnende Grausamkeit, die das
Opfer überfällt und herzlos niederschlägt.

Bemerkenswerth ist das Urteil eines hochgebildeten und allge-
mein geachteten Franzosen *), der mehr als die meisten Fremden in
Japan Gelegenheit hatte, den Volkscharakter kennen zu lernen. Er
schreibt: »Das Privatleben (der Japaner) gleicht dem politischen, wie
es aus ihrer Geschichte zu erkennen ist, und beide gleichen den
klimatischen Zügen des Landes. Lange Perioden der Ruhe und
Schläfrigkeit wechseln mit plötzlichem Erwachen, mit ungestümen
Ausbrüchen ab. Eine natürliche Lethargie unterbrochen durch heftige
Stösse. Die Fanfaren des Carneval dringen mitten durch den Nebel
der Melancholie. Alles bestätigt ihnen ein Temperament ohne Gleich-
gewicht, Geister, die wie Schiffe auf dem Meere treiben, ohne Ballast,
träge Naturen, die ruck- und sprungweise sich fortbewegen. Viel
Liebe zu Vergnügen und Ueberraschungen! Abneigung gegen an-
dauernde Arbeit! Plötzlicher Aufschwung und plötzliches Erschlaffen

*) G. Bousquet: Le Japon de nos jours. Paris 1877.
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[457/0491] 1. Ainos und Japaner, Ursprung, Körperbeschaffenheit etc. Beurteiler gibt, dessen Erfahrungen und Ansichten volle Beachtung verdienen. Zu einem Anstandsgefühl, welches in vielen Stücken das der meisten Europäer weit übertrifft, gesellt sich eine sorglose Blosstellung der Person und Vieles, was wir geradezu unkeusch nennen. Der allgemein verbreitete Geschmack an Blumen, landschaftlichen Schön- heiten und Gegenständen der graphischen und bildenden Künste ist gepaart mit grober Sinnlichkeit, deren verderbliche Folgen auch dem Nichtarzte vielfach vor Augen treten. Neben warmer Vaterlandsliebe und einem eigenthümlichen Rechtssinn bemerken wir eine grosse Ge- neigtheit, die schlechteste Aufführung zu übersehen, und in der Be- amtenwelt viel Bestechlichkeit und Nepotismus. Dem lebhaften Ver- langen nach Kenntnissen und der Raschheit in ihrer Erwerbung steht Mangel an Ausdauer gegenüber und an Geschick, dieselben zu ver- werthen, soweit es sich nicht um blinde Nachahmung handelt. Zur Oberflächlichkeit und Zusammenhangslosigkeit des Wissens gesellt sich nicht selten eine unergründliche Verschlagenheit. Die japanische Jugend ist die folgsamste, welche ich je kennen gelernt habe. In ihrer Erziehung wird, wie bei der Behandlung des Viehes, das Schlagen vermieden, das überhaupt verpönt ist, wie jede lärmende Aeusserung des Affectes. Aber zu dieser Selbstbeherrschung, welche diejenige unserer kalten Nordländer weit in den Schatten stellt, welche mit lächelndem Munde Dinge besprechen kann, die unser Gemüth aufs tiefste ergreifen, kommt eine kalte berechnende Grausamkeit, die das Opfer überfällt und herzlos niederschlägt. Bemerkenswerth ist das Urteil eines hochgebildeten und allge- mein geachteten Franzosen *), der mehr als die meisten Fremden in Japan Gelegenheit hatte, den Volkscharakter kennen zu lernen. Er schreibt: »Das Privatleben (der Japaner) gleicht dem politischen, wie es aus ihrer Geschichte zu erkennen ist, und beide gleichen den klimatischen Zügen des Landes. Lange Perioden der Ruhe und Schläfrigkeit wechseln mit plötzlichem Erwachen, mit ungestümen Ausbrüchen ab. Eine natürliche Lethargie unterbrochen durch heftige Stösse. Die Fanfaren des Carneval dringen mitten durch den Nebel der Melancholie. Alles bestätigt ihnen ein Temperament ohne Gleich- gewicht, Geister, die wie Schiffe auf dem Meere treiben, ohne Ballast, träge Naturen, die ruck- und sprungweise sich fortbewegen. Viel Liebe zu Vergnügen und Ueberraschungen! Abneigung gegen an- dauernde Arbeit! Plötzlicher Aufschwung und plötzliches Erschlaffen *) G. Bousquet: Le Japon de nos jours. Paris 1877.

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Zitationshilfe: Rein, Johann Justus: Japan nach Reisen und Studien. Bd. 1. Leipzig, 1881, S. 457. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rein_japan01_1881/491>, abgerufen am 25.11.2024.