der Seele in dem Brennpunkt der Persönlichkeit wieder zusammengefasst.
Der Traum ist Produkt eines partiellen Wachens des Nervensystems. Daher verhält er sich, wie sich die Extensität und Intensität dieses Zustandes verhält. Entweder die Phantasie wacht allein, oder einzelne Sinnorgane, das Bewe- gungsvermögen u. s. w. wachen mit. Daher der Un- terschied zwischen Traum, Schlafreden, Nacht- wandlen. Das Selbstbewusstseyn wankt in seinen sämmtlichen Verhältnissen. Die Phantasie ebbet und fluthet in sich selbst, kein Eindruck der Sinne zügelt sie mehr. Der Träumer hat gar keine Vorstellung seiner Objektivität, und sein Subject denkt er sich falsch. Er hält seine Ge- sichte für reale Objekte, und spielt jede fremde Rolle als sein Eigenthum, die ihm die Phantasie zutheilt, hält Reden, besteht Abentheuer, be- kämpft Hindernisse mit Anstand. Er hält weder die wirkliche Zeit noch den wahren Ort fest, ist bald in der Vorzeit bald in der Zukunft; unter Todten und Lebendigen; durchfliegt Parasangen des Raums in einem Augenblick, und hüpft von einem Welttheil in einen andern über. Die In- tensität der Kräfte ist in dem Maasse gestiegen als ihre Extensität beschränkt ist. Die Bilder der Phantasie haben die Stärke der Sinnesanschauun- gen. Ihr Colorit ist grell. Die Scenen sind wie vom Tageslicht erleuchtet, wenn Tagesscenen geträumt werden.
der Seele in dem Brennpunkt der Perſönlichkeit wieder zuſammengefaſst.
Der Traum iſt Produkt eines partiellen Wachens des Nervenſyſtems. Daher verhält er ſich, wie ſich die Extenſität und Intenſität dieſes Zuſtandes verhält. Entweder die Phantaſie wacht allein, oder einzelne Sinnorgane, das Bewe- gungsvermögen u. ſ. w. wachen mit. Daher der Un- terſchied zwiſchen Traum, Schlafreden, Nacht- wandlen. Das Selbſtbewuſstſeyn wankt in ſeinen ſämmtlichen Verhältniſſen. Die Phantaſie ebbet und fluthet in ſich ſelbſt, kein Eindruck der Sinne zügelt ſie mehr. Der Träumer hat gar keine Vorſtellung ſeiner Objektivität, und ſein Subject denkt er ſich falſch. Er hält ſeine Ge- ſichte für reale Objekte, und ſpielt jede fremde Rolle als ſein Eigenthum, die ihm die Phantaſie zutheilt, hält Reden, beſteht Abentheuer, be- kämpft Hinderniſſe mit Anſtand. Er hält weder die wirkliche Zeit noch den wahren Ort feſt, iſt bald in der Vorzeit bald in der Zukunft; unter Todten und Lebendigen; durchfliegt Paraſangen des Raums in einem Augenblick, und hüpft von einem Welttheil in einen andern über. Die In- tenſität der Kräfte iſt in dem Maaſse geſtiegen als ihre Extenſität beſchränkt iſt. Die Bilder der Phantaſie haben die Stärke der Sinnesanſchauun- gen. Ihr Colorit iſt grell. Die Scenen ſind wie vom Tageslicht erleuchtet, wenn Tagesſcenen geträumt werden.
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der Seele in dem Brennpunkt der Perſönlichkeit
wieder zuſammengefaſst.
Der Traum iſt Produkt eines partiellen
Wachens des Nervenſyſtems. Daher verhält er
ſich, wie ſich die Extenſität und Intenſität dieſes
Zuſtandes verhält. Entweder die Phantaſie wacht
allein, oder einzelne Sinnorgane, das Bewe-
gungsvermögen u. ſ. w. wachen mit. Daher der Un-
terſchied zwiſchen Traum, Schlafreden, Nacht-
wandlen. Das Selbſtbewuſstſeyn wankt in ſeinen
ſämmtlichen Verhältniſſen. Die Phantaſie ebbet
und fluthet in ſich ſelbſt, kein Eindruck der
Sinne zügelt ſie mehr. Der Träumer hat gar
keine Vorſtellung ſeiner Objektivität, und ſein
Subject denkt er ſich falſch. Er hält ſeine Ge-
ſichte für reale Objekte, und ſpielt jede fremde
Rolle als ſein Eigenthum, die ihm die Phantaſie
zutheilt, hält Reden, beſteht Abentheuer, be-
kämpft Hinderniſſe mit Anſtand. Er hält weder
die wirkliche Zeit noch den wahren Ort feſt, iſt
bald in der Vorzeit bald in der Zukunft; unter
Todten und Lebendigen; durchfliegt Paraſangen
des Raums in einem Augenblick, und hüpft von
einem Welttheil in einen andern über. Die In-
tenſität der Kräfte iſt in dem Maaſse geſtiegen als
ihre Extenſität beſchränkt iſt. Die Bilder der
Phantaſie haben die Stärke der Sinnesanſchauun-
gen. Ihr Colorit iſt grell. Die Scenen ſind wie
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Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/97>, abgerufen am 24.11.2024.
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