Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803.

Bild:
<< vorherige Seite

der Geruch; das Gesicht erwacht schwerer als
das Gehör; Geschmack und Geruch erwachen
am spätesten. Zuerst erschlaffen die Muskeln der
Extremitäten; dann die des Nackens; am läng-
sten wachen und wirken die Muskeln des Rü-
ckens. Eben diese Succession des Einschlafens
zeigt sich auch in den Nervenenden, die zu den
Eingeweiden gehn.

Dieser Zustand des partiellen Schlafs ist
zwar gewöhnlich nur transitorisch, aber er kann
auch permanent seyn. Das Nervensystem darf
nicht immer ganz; es kann auch theilweise schla-
fen. In dem nemlichen Verhältniss perenniren
dann auch die Funktionen der Seele, deren Or-
gan es ist; aber nicht alle, sondern nur einige
und diese ohne Synthesis im Selbstbewusstseyn.
Es sind nur einige Register des grossen Kunst-
werks gezogen. Diese Nerven, jene Theile des
Gehirns oder des Rückenmarks wachen in dem
vasten Umfang des ganzen Systems und beginnen
ihre Spiele für sich. Im Traume wacht die
Phantasie, aber die Sinnes- und Bewegungsnerven
schlafen. Im Alp beschliesst die Seele Bewegun-
gen, aber sie erfolgen nicht, weil der Theil,
der sie beginnen soll, keine Gemeinschaft mit
den Beschlüssen der Seele hat. Im Schlafwan-
deln wacht auch dieser Theil, selbst einige Sinn-
organe wachen. Von einem Soldaten erzählt
man, dass ihm das geträumt habe, was man ihm

der Geruch; das Geſicht erwacht ſchwerer als
das Gehör; Geſchmack und Geruch erwachen
am ſpäteſten. Zuerſt erſchlaffen die Muskeln der
Extremitäten; dann die des Nackens; am läng-
ſten wachen und wirken die Muskeln des Rü-
ckens. Eben dieſe Succeſſion des Einſchlafens
zeigt ſich auch in den Nervenenden, die zu den
Eingeweiden gehn.

Dieſer Zuſtand des partiellen Schlafs iſt
zwar gewöhnlich nur tranſitoriſch, aber er kann
auch permanent ſeyn. Das Nervenſyſtem darf
nicht immer ganz; es kann auch theilweiſe ſchla-
fen. In dem nemlichen Verhältniſs perenniren
dann auch die Funktionen der Seele, deren Or-
gan es iſt; aber nicht alle, ſondern nur einige
und dieſe ohne Syntheſis im Selbſtbewuſstſeyn.
Es ſind nur einige Regiſter des groſsen Kunſt-
werks gezogen. Dieſe Nerven, jene Theile des
Gehirns oder des Rückenmarks wachen in dem
vaſten Umfang des ganzen Syſtems und beginnen
ihre Spiele für ſich. Im Traume wacht die
Phantaſie, aber die Sinnes- und Bewegungsnerven
ſchlafen. Im Alp beſchlieſst die Seele Bewegun-
gen, aber ſie erfolgen nicht, weil der Theil,
der ſie beginnen ſoll, keine Gemeinſchaft mit
den Beſchlüſſen der Seele hat. Im Schlafwan-
deln wacht auch dieſer Theil, ſelbſt einige Sinn-
organe wachen. Von einem Soldaten erzählt
man, daſs ihm das geträumt habe, was man ihm

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0095" n="90"/>
der Geruch; das Ge&#x017F;icht erwacht &#x017F;chwerer als<lb/>
das Gehör; Ge&#x017F;chmack und Geruch erwachen<lb/>
am &#x017F;päte&#x017F;ten. Zuer&#x017F;t er&#x017F;chlaffen die Muskeln der<lb/>
Extremitäten; dann die des Nackens; am läng-<lb/>
&#x017F;ten wachen und wirken die Muskeln des Rü-<lb/>
ckens. Eben die&#x017F;e Succe&#x017F;&#x017F;ion des Ein&#x017F;chlafens<lb/>
zeigt &#x017F;ich auch in den Nervenenden, die zu den<lb/>
Eingeweiden gehn.</p><lb/>
          <p>Die&#x017F;er Zu&#x017F;tand des partiellen Schlafs i&#x017F;t<lb/>
zwar gewöhnlich nur tran&#x017F;itori&#x017F;ch, aber er kann<lb/>
auch permanent &#x017F;eyn. Das Nerven&#x017F;y&#x017F;tem darf<lb/>
nicht immer ganz; es kann auch theilwei&#x017F;e &#x017F;chla-<lb/>
fen. In dem nemlichen Verhältni&#x017F;s perenniren<lb/>
dann auch die Funktionen der Seele, deren Or-<lb/>
gan es i&#x017F;t; aber nicht alle, &#x017F;ondern nur einige<lb/>
und die&#x017F;e ohne Synthe&#x017F;is im Selb&#x017F;tbewu&#x017F;st&#x017F;eyn.<lb/>
Es &#x017F;ind nur einige Regi&#x017F;ter des gro&#x017F;sen Kun&#x017F;t-<lb/>
werks gezogen. Die&#x017F;e Nerven, jene Theile des<lb/>
Gehirns oder des Rückenmarks wachen in dem<lb/>
va&#x017F;ten Umfang des ganzen Sy&#x017F;tems und beginnen<lb/>
ihre Spiele für &#x017F;ich. Im Traume wacht die<lb/>
Phanta&#x017F;ie, aber die Sinnes- und Bewegungsnerven<lb/>
&#x017F;chlafen. Im Alp be&#x017F;chlie&#x017F;st die Seele Bewegun-<lb/>
gen, aber &#x017F;ie erfolgen nicht, weil der Theil,<lb/>
der &#x017F;ie beginnen &#x017F;oll, keine Gemein&#x017F;chaft mit<lb/>
den Be&#x017F;chlü&#x017F;&#x017F;en der Seele hat. Im Schlafwan-<lb/>
deln wacht auch die&#x017F;er Theil, &#x017F;elb&#x017F;t einige Sinn-<lb/>
organe wachen. Von einem Soldaten erzählt<lb/>
man, da&#x017F;s ihm das geträumt habe, was man ihm<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[90/0095] der Geruch; das Geſicht erwacht ſchwerer als das Gehör; Geſchmack und Geruch erwachen am ſpäteſten. Zuerſt erſchlaffen die Muskeln der Extremitäten; dann die des Nackens; am läng- ſten wachen und wirken die Muskeln des Rü- ckens. Eben dieſe Succeſſion des Einſchlafens zeigt ſich auch in den Nervenenden, die zu den Eingeweiden gehn. Dieſer Zuſtand des partiellen Schlafs iſt zwar gewöhnlich nur tranſitoriſch, aber er kann auch permanent ſeyn. Das Nervenſyſtem darf nicht immer ganz; es kann auch theilweiſe ſchla- fen. In dem nemlichen Verhältniſs perenniren dann auch die Funktionen der Seele, deren Or- gan es iſt; aber nicht alle, ſondern nur einige und dieſe ohne Syntheſis im Selbſtbewuſstſeyn. Es ſind nur einige Regiſter des groſsen Kunſt- werks gezogen. Dieſe Nerven, jene Theile des Gehirns oder des Rückenmarks wachen in dem vaſten Umfang des ganzen Syſtems und beginnen ihre Spiele für ſich. Im Traume wacht die Phantaſie, aber die Sinnes- und Bewegungsnerven ſchlafen. Im Alp beſchlieſst die Seele Bewegun- gen, aber ſie erfolgen nicht, weil der Theil, der ſie beginnen ſoll, keine Gemeinſchaft mit den Beſchlüſſen der Seele hat. Im Schlafwan- deln wacht auch dieſer Theil, ſelbſt einige Sinn- organe wachen. Von einem Soldaten erzählt man, daſs ihm das geträumt habe, was man ihm

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/95
Zitationshilfe: Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 90. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/95>, abgerufen am 24.11.2024.