seine Rede nicht in dem Moment, wo sie gedacht, sondern erst wo sie gesprochen wird. Seine Per- sönlichkeit ist gleichsam verdoppelt, mit der einen redet er, mit der andern horcht er der Rede zu. Auch in Nervenkrankheiten, z. B. nahe vor ei- ner Ohnmacht, unterscheiden wir die Subjekti- vität und Objektivität nicht scharf und schnell mehr, sondern werden von ihnen so schwach afficirt, dass wir an beiden zweifeln und uns immer fragen müssen, ob wir träumen oder Rea- litäten wahrnehmen, ob wir es sind, die em- pfinden und handeln, oder blosse Zuschauer des Empfindens und Handelns eines andern sind. Wir hören den Laut unserer Sprache, sind aber ungewiss, ob dies wirklich unsere oder eines an- deren Sprache sey. Wir fassen bloss die Bilder, die uns durch das Auge mitgetheilt werden; den Sinn der Schrift und der Rede fassen wir nicht mehr. Die Seele schwebt gleichsam in einem Nebel, in welchen sie theils sich selbst nicht fin- den kann, theils die Gegenstände wie aus weiter Ferne wahrnimmt. Als der selige Oberbergrath Goldhagen aus einem Anfall seiner letzten Krankheit, in welchem er abwechselnd an Schlaf- sucht und Irrereden gelitten hatte, am Morgen erwachte, und mehrere Personen seiner Familie um sein Bette sassen, trat auch sein einziges Kind, das er sehr liebte, herein, ihm einen guten Mor- gen zu wünschen und sich nach seinem Befinden zu erkundigen. Ey, sagte er, liebes Kind! in-
ſeine Rede nicht in dem Moment, wo ſie gedacht, ſondern erſt wo ſie geſprochen wird. Seine Per- ſönlichkeit iſt gleichſam verdoppelt, mit der einen redet er, mit der andern horcht er der Rede zu. Auch in Nervenkrankheiten, z. B. nahe vor ei- ner Ohnmacht, unterſcheiden wir die Subjekti- vität und Objektivität nicht ſcharf und ſchnell mehr, ſondern werden von ihnen ſo ſchwach afficirt, daſs wir an beiden zweifeln und uns immer fragen müſſen, ob wir träumen oder Rea- litäten wahrnehmen, ob wir es ſind, die em- pfinden und handeln, oder bloſse Zuſchauer des Empfindens und Handelns eines andern ſind. Wir hören den Laut unſerer Sprache, ſind aber ungewiſs, ob dies wirklich unſere oder eines an- deren Sprache ſey. Wir faſſen bloſs die Bilder, die uns durch das Auge mitgetheilt werden; den Sinn der Schrift und der Rede faſſen wir nicht mehr. Die Seele ſchwebt gleichſam in einem Nebel, in welchen ſie theils ſich ſelbſt nicht fin- den kann, theils die Gegenſtände wie aus weiter Ferne wahrnimmt. Als der ſelige Oberbergrath Goldhagen aus einem Anfall ſeiner letzten Krankheit, in welchem er abwechſelnd an Schlaf- ſucht und Irrereden gelitten hatte, am Morgen erwachte, und mehrere Perſonen ſeiner Familie um ſein Bette ſaſsen, trat auch ſein einziges Kind, das er ſehr liebte, herein, ihm einen guten Mor- gen zu wünſchen und ſich nach ſeinem Befinden zu erkundigen. Ey, ſagte er, liebes Kind! in-
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ſeine Rede nicht in dem Moment, wo ſie gedacht,
ſondern erſt wo ſie geſprochen wird. Seine Per-
ſönlichkeit iſt gleichſam verdoppelt, mit der einen
redet er, mit der andern horcht er der Rede zu.
Auch in Nervenkrankheiten, z. B. nahe vor ei-
ner Ohnmacht, unterſcheiden wir die Subjekti-
vität und Objektivität nicht ſcharf und ſchnell
mehr, ſondern werden von ihnen ſo ſchwach
afficirt, daſs wir an beiden zweifeln und uns
immer fragen müſſen, ob wir träumen oder Rea-
litäten wahrnehmen, ob wir es ſind, die em-
pfinden und handeln, oder bloſse Zuſchauer des
Empfindens und Handelns eines andern ſind.
Wir hören den Laut unſerer Sprache, ſind aber
ungewiſs, ob dies wirklich unſere oder eines an-
deren Sprache ſey. Wir faſſen bloſs die Bilder,
die uns durch das Auge mitgetheilt werden; den
Sinn der Schrift und der Rede faſſen wir nicht
mehr. Die Seele ſchwebt gleichſam in einem
Nebel, in welchen ſie theils ſich ſelbſt nicht fin-
den kann, theils die Gegenſtände wie aus weiter
Ferne wahrnimmt. Als der ſelige Oberbergrath
Goldhagen aus einem Anfall ſeiner letzten
Krankheit, in welchem er abwechſelnd an Schlaf-
ſucht und Irrereden gelitten hatte, am Morgen
erwachte, und mehrere Perſonen ſeiner Familie
um ſein Bette ſaſsen, trat auch ſein einziges Kind,
das er ſehr liebte, herein, ihm einen guten Mor-
gen zu wünſchen und ſich nach ſeinem Befinden
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Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 69. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/74>, abgerufen am 26.11.2024.
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