chologie nicht entbehren kann. In diesem Zu- stande muss die Synthesis im Bewusstseyn verloh- ren gehn. Die Seele ist gleichsam von ihrem Standpunkt weggerückt; unbekannt in ihrer eigenen Wohnung, in welcher sie alles umge- stürzt findet, hat Mast und Ruder verlohren und schwimmt gezwungen auf den Wogen der schaf- fenden Phantasie in fremde Welten, Zeiten und Räume, glaubt bald ein Wurm bald ein Gott zu seyn, lebt in Höhlen oder Palästen und versetzt sich in Zeiten die nicht mehr sind, oder noch kommen sollen
Das kranke Bewusstseyn hat mancherley Gestalten, je nachdem diese oder jene Beziehun- gen desselben, allein oder hervorstechend, affi- cirt sind. Zuerst will ich seiner Anomalieen er- wähnen, sofern sie sich vorzüglich durch ein fehlerhaftes Bewusstseyn der Objektivität äussern. Diese Anomalieen entstehn von einem Fehler der Seele oder der Sinne; diese wirken entweder gar nicht oder falsch, jene nimmt die Eindrücke derselben nicht wahr. Der kranke Zustand ist übrigens dem Grade nach verschieden, bald einfach, bald zusammengesetzt. In der Vertiefung geht die ganze Kraft der Seele vor- wärts in der Meditation, daher sie die Aussen- dinge nicht beachtet und an äusserer Besonnen- heit Mangel leidet. Eben so verhält es sich im fixen Wahnsinn, in dem cataleptischen Hinstarren der Seele auf ein Object, in der Entzückung
und
chologie nicht entbehren kann. In dieſem Zu- ſtande muſs die Syntheſis im Bewuſstſeyn verloh- ren gehn. Die Seele iſt gleichſam von ihrem Standpunkt weggerückt; unbekannt in ihrer eigenen Wohnung, in welcher ſie alles umge- ſtürzt findet, hat Maſt und Ruder verlohren und ſchwimmt gezwungen auf den Wogen der ſchaf- fenden Phantaſie in fremde Welten, Zeiten und Räume, glaubt bald ein Wurm bald ein Gott zu ſeyn, lebt in Höhlen oder Paläſten und verſetzt ſich in Zeiten die nicht mehr ſind, oder noch kommen ſollen
Das kranke Bewuſstſeyn hat mancherley Geſtalten, je nachdem dieſe oder jene Beziehun- gen deſſelben, allein oder hervorſtechend, affi- cirt ſind. Zuerſt will ich ſeiner Anomalieen er- wähnen, ſofern ſie ſich vorzüglich durch ein fehlerhaftes Bewuſstſeyn der Objektivität äuſsern. Dieſe Anomalieen entſtehn von einem Fehler der Seele oder der Sinne; dieſe wirken entweder gar nicht oder falſch, jene nimmt die Eindrücke derſelben nicht wahr. Der kranke Zuſtand iſt übrigens dem Grade nach verſchieden, bald einfach, bald zuſammengeſetzt. In der Vertiefung geht die ganze Kraft der Seele vor- wärts in der Meditation, daher ſie die Auſsen- dinge nicht beachtet und an äuſserer Beſonnen- heit Mangel leidet. Eben ſo verhält es ſich im fixen Wahnſinn, in dem cataleptiſchen Hinſtarren der Seele auf ein Object, in der Entzückung
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chologie nicht entbehren kann. In dieſem Zu-
ſtande muſs die Syntheſis im Bewuſstſeyn verloh-
ren gehn. Die Seele iſt gleichſam von ihrem
Standpunkt weggerückt; unbekannt in ihrer
eigenen Wohnung, in welcher ſie alles umge-
ſtürzt findet, hat Maſt und Ruder verlohren und
ſchwimmt gezwungen auf den Wogen der ſchaf-
fenden Phantaſie in fremde Welten, Zeiten und
Räume, glaubt bald ein Wurm bald ein Gott zu
ſeyn, lebt in Höhlen oder Paläſten und verſetzt
ſich in Zeiten die nicht mehr ſind, oder noch
kommen ſollen
Das kranke Bewuſstſeyn hat mancherley
Geſtalten, je nachdem dieſe oder jene Beziehun-
gen deſſelben, allein oder hervorſtechend, affi-
cirt ſind. Zuerſt will ich ſeiner Anomalieen er-
wähnen, ſofern ſie ſich vorzüglich durch ein
fehlerhaftes Bewuſstſeyn der Objektivität
äuſsern. Dieſe Anomalieen entſtehn von einem
Fehler der Seele oder der Sinne; dieſe wirken
entweder gar nicht oder falſch, jene nimmt die
Eindrücke derſelben nicht wahr. Der kranke
Zuſtand iſt übrigens dem Grade nach verſchieden,
bald einfach, bald zuſammengeſetzt. In der
Vertiefung geht die ganze Kraft der Seele vor-
wärts in der Meditation, daher ſie die Auſsen-
dinge nicht beachtet und an äuſserer Beſonnen-
heit Mangel leidet. Eben ſo verhält es ſich im
fixen Wahnſinn, in dem cataleptiſchen Hinſtarren
der Seele auf ein Object, in der Entzückung
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Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 64. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/69>, abgerufen am 26.11.2024.
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