Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803.

Bild:
<< vorherige Seite

ihr Körper durchs Gemeingefühl krank angekün-
diget: so ruft sie augenblicklich ihr Verhältniss
zu demselben in Selbstbewusstseyn vor. Zwar
sind wir uns in dem gewöhnlichen Geschäfftsgang
nicht aller Bestimmungen unserer Person klar be-
wusst, um die Kraft nicht auf zu viele Punkte
zu zerstreuen. Allein wir haben es doch in unse-
rer Gewalt, durch Hülfe der Besonnenheit augen-
blicklich alle, oder doch solche persönliche Ver-
hältnisse zur Klarkeit zu erheben, die mit unse-
rem gegenwärtigen Interesse in der nächsten Bezie-
hung stehn. Wir denken uns unsere Eigenschaf-
ten, Grundsätze, Maximen, die Metamorphosen
unseres Körpers und der Seele, die wir während
unsers Lebens bis auf den gegenwärtigen Augen-
blick durchlaufen sind, und denken wahr, wenn
uns in der That alles dies zukömmt, was wir für
das Unsrige halten und in der Synthesis des Be-
wusstseyns mit unserer Person verbinden. Das
Kind schaut auch an, es schaut sich und die Welt
an, aber ohne Verknüpfung. Seine Ideen treiben
losgebunden vorüber, wie die Bilder in einem
Bach. Es spielt mit seinen eignen Gliedern, wie
mit einem fremden Tand. Es fühlt etwas, nemlich
sich, es fühlt sich mit Lust oder Unlust, die es zum
Lachen oder Weinen reitzen. Aber es weiss es
nicht, dass es die Person ist, die die Welt vorstellt
und durch sein eignes Selbst angenehm oder unan-
genehm afficirt wird. Erst spät er wacht es aus die-
sem Zustand der Ungebundenheit und lernt das

ihr Körper durchs Gemeingefühl krank angekün-
diget: ſo ruft ſie augenblicklich ihr Verhältniſs
zu demſelben in Selbſtbewuſstſeyn vor. Zwar
ſind wir uns in dem gewöhnlichen Geſchäfftsgang
nicht aller Beſtimmungen unſerer Perſon klar be-
wuſst, um die Kraft nicht auf zu viele Punkte
zu zerſtreuen. Allein wir haben es doch in unſe-
rer Gewalt, durch Hülfe der Beſonnenheit augen-
blicklich alle, oder doch ſolche perſönliche Ver-
hältniſſe zur Klarkeit zu erheben, die mit unſe-
rem gegenwärtigen Intereſſe in der nächſten Bezie-
hung ſtehn. Wir denken uns unſere Eigenſchaf-
ten, Grundſätze, Maximen, die Metamorphoſen
unſeres Körpers und der Seele, die wir während
unſers Lebens bis auf den gegenwärtigen Augen-
blick durchlaufen ſind, und denken wahr, wenn
uns in der That alles dies zukömmt, was wir für
das Unſrige halten und in der Syntheſis des Be-
wuſstſeyns mit unſerer Perſon verbinden. Das
Kind ſchaut auch an, es ſchaut ſich und die Welt
an, aber ohne Verknüpfung. Seine Ideen treiben
losgebunden vorüber, wie die Bilder in einem
Bach. Es ſpielt mit ſeinen eignen Gliedern, wie
mit einem fremden Tand. Es fühlt etwas, nemlich
ſich, es fühlt ſich mit Luſt oder Unluſt, die es zum
Lachen oder Weinen reitzen. Aber es weiſs es
nicht, daſs es die Perſon iſt, die die Welt vorſtellt
und durch ſein eignes Selbſt angenehm oder unan-
genehm afficirt wird. Erſt ſpät er wacht es aus die-
ſem Zuſtand der Ungebundenheit und lernt das

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0062" n="57"/>
ihr Körper durchs Gemeingefühl krank angekün-<lb/>
diget: &#x017F;o ruft &#x017F;ie augenblicklich ihr Verhältni&#x017F;s<lb/>
zu dem&#x017F;elben in Selb&#x017F;tbewu&#x017F;st&#x017F;eyn vor. Zwar<lb/>
&#x017F;ind wir uns in dem gewöhnlichen Ge&#x017F;chäfftsgang<lb/>
nicht aller Be&#x017F;timmungen un&#x017F;erer Per&#x017F;on klar be-<lb/>
wu&#x017F;st, um die Kraft nicht auf zu viele Punkte<lb/>
zu zer&#x017F;treuen. Allein wir haben es doch in un&#x017F;e-<lb/>
rer Gewalt, durch Hülfe der Be&#x017F;onnenheit augen-<lb/>
blicklich alle, oder doch &#x017F;olche per&#x017F;önliche Ver-<lb/>
hältni&#x017F;&#x017F;e zur Klarkeit zu erheben, die mit un&#x017F;e-<lb/>
rem gegenwärtigen Intere&#x017F;&#x017F;e in der näch&#x017F;ten Bezie-<lb/>
hung &#x017F;tehn. Wir denken uns un&#x017F;ere Eigen&#x017F;chaf-<lb/>
ten, Grund&#x017F;ätze, Maximen, die Metamorpho&#x017F;en<lb/>
un&#x017F;eres Körpers und der Seele, die wir während<lb/>
un&#x017F;ers Lebens bis auf den gegenwärtigen Augen-<lb/>
blick durchlaufen &#x017F;ind, und denken wahr, wenn<lb/>
uns in der That alles dies zukömmt, was wir für<lb/>
das Un&#x017F;rige halten und in der Synthe&#x017F;is des Be-<lb/>
wu&#x017F;st&#x017F;eyns mit un&#x017F;erer Per&#x017F;on verbinden. Das<lb/>
Kind &#x017F;chaut auch an, es &#x017F;chaut &#x017F;ich und die Welt<lb/>
an, aber ohne Verknüpfung. Seine Ideen treiben<lb/>
losgebunden vorüber, wie die Bilder in einem<lb/>
Bach. Es &#x017F;pielt mit &#x017F;einen eignen Gliedern, wie<lb/>
mit einem fremden Tand. Es fühlt etwas, nemlich<lb/>
&#x017F;ich, es fühlt &#x017F;ich mit Lu&#x017F;t oder Unlu&#x017F;t, die es zum<lb/>
Lachen oder Weinen reitzen. Aber es wei&#x017F;s es<lb/>
nicht, da&#x017F;s es die Per&#x017F;on i&#x017F;t, die die Welt vor&#x017F;tellt<lb/>
und durch &#x017F;ein eignes Selb&#x017F;t angenehm oder unan-<lb/>
genehm afficirt wird. Er&#x017F;t &#x017F;pät er wacht es aus die-<lb/>
&#x017F;em Zu&#x017F;tand der Ungebundenheit und lernt das<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[57/0062] ihr Körper durchs Gemeingefühl krank angekün- diget: ſo ruft ſie augenblicklich ihr Verhältniſs zu demſelben in Selbſtbewuſstſeyn vor. Zwar ſind wir uns in dem gewöhnlichen Geſchäfftsgang nicht aller Beſtimmungen unſerer Perſon klar be- wuſst, um die Kraft nicht auf zu viele Punkte zu zerſtreuen. Allein wir haben es doch in unſe- rer Gewalt, durch Hülfe der Beſonnenheit augen- blicklich alle, oder doch ſolche perſönliche Ver- hältniſſe zur Klarkeit zu erheben, die mit unſe- rem gegenwärtigen Intereſſe in der nächſten Bezie- hung ſtehn. Wir denken uns unſere Eigenſchaf- ten, Grundſätze, Maximen, die Metamorphoſen unſeres Körpers und der Seele, die wir während unſers Lebens bis auf den gegenwärtigen Augen- blick durchlaufen ſind, und denken wahr, wenn uns in der That alles dies zukömmt, was wir für das Unſrige halten und in der Syntheſis des Be- wuſstſeyns mit unſerer Perſon verbinden. Das Kind ſchaut auch an, es ſchaut ſich und die Welt an, aber ohne Verknüpfung. Seine Ideen treiben losgebunden vorüber, wie die Bilder in einem Bach. Es ſpielt mit ſeinen eignen Gliedern, wie mit einem fremden Tand. Es fühlt etwas, nemlich ſich, es fühlt ſich mit Luſt oder Unluſt, die es zum Lachen oder Weinen reitzen. Aber es weiſs es nicht, daſs es die Perſon iſt, die die Welt vorſtellt und durch ſein eignes Selbſt angenehm oder unan- genehm afficirt wird. Erſt ſpät er wacht es aus die- ſem Zuſtand der Ungebundenheit und lernt das

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/62
Zitationshilfe: Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 57. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/62>, abgerufen am 27.11.2024.