der Seelenfunctionen. Je thätiger die Phantasie des Verrückten ist, desto weniger kommen die Eindrücke der Sinnorgane zum klaren Bewusst- seyn. Je mehr er an eine Ideenreihe gefesselt ist, desto weniger können andere Platz gewinnen und die fixirten verdrängen. Denn es ist unbedingtes Naturgesetz, dass die distributiven Aeusserungen der Lebenskraft in dem Maasse erlöschen, als ihre Wirksamkeit an einem Ort hervorstechend angestrengt wird. Nun wirken aber die körperli- chen Excitatoren gleichmässig, also auch auf die schon zu empfindlichen Saiten; die beruhigen- den Arzneien stimmen alles, auch die torpiden Fasern, in gleichen Graden herunter. Man kann allerdings den Rasenden durch Mohnsaft zur Ruhe bringen, allein gescheut ist er deswegen nicht, sondern nur ein Narr anderer Art gewor- den. Doch muss man die Sthenie und Asthenie des Vegetationssystems, welches auf das Ganze einfliesst, nicht verwechseln mit der eigenthüm- lichen Energie, die das Gehirn, als ein schon gebildeter Theil, unabhängig von demselben, be- sitzt. Das Vegetationssystem kann zwar zu schwach seyn in Rücksicht der ganzen Oekono- mie, aber doch zu stark auf Einen Theil wir- ken, und denselben mit Kraft überladen.
Eine andere Ansicht. Die plastische Natur schafft das Gehirn als eine rohe Masse (tabula rasa) aus einem thierischen Stoff, der ausser den allgemeinen Eigenschaften thierischer Stoffe über-
der Seelenfunctionen. Je thätiger die Phantaſie des Verrückten iſt, deſto weniger kommen die Eindrücke der Sinnorgane zum klaren Bewuſst- ſeyn. Je mehr er an eine Ideenreihe gefeſſelt iſt, deſto weniger können andere Platz gewinnen und die fixirten verdrängen. Denn es iſt unbedingtes Naturgeſetz, daſs die diſtributiven Aeuſserungen der Lebenskraft in dem Maaſse erlöſchen, als ihre Wirkſamkeit an einem Ort hervorſtechend angeſtrengt wird. Nun wirken aber die körperli- chen Excitatoren gleichmäſsig, alſo auch auf die ſchon zu empfindlichen Saiten; die beruhigen- den Arzneien ſtimmen alles, auch die torpiden Faſern, in gleichen Graden herunter. Man kann allerdings den Raſenden durch Mohnſaft zur Ruhe bringen, allein geſcheut iſt er deswegen nicht, ſondern nur ein Narr anderer Art gewor- den. Doch muſs man die Sthenie und Aſthenie des Vegetationsſyſtems, welches auf das Ganze einflieſst, nicht verwechſeln mit der eigenthüm- lichen Energie, die das Gehirn, als ein ſchon gebildeter Theil, unabhängig von demſelben, be- ſitzt. Das Vegetationsſyſtem kann zwar zu ſchwach ſeyn in Rückſicht der ganzen Oekono- mie, aber doch zu ſtark auf Einen Theil wir- ken, und denſelben mit Kraft überladen.
Eine andere Anſicht. Die plaſtiſche Natur ſchafft das Gehirn als eine rohe Maſſe (tabula raſa) aus einem thieriſchen Stoff, der auſser den allgemeinen Eigenſchaften thieriſcher Stoffe über-
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der Seelenfunctionen. Je thätiger die Phantaſie
des Verrückten iſt, deſto weniger kommen die
Eindrücke der Sinnorgane zum klaren Bewuſst-
ſeyn. Je mehr er an eine Ideenreihe gefeſſelt iſt,
deſto weniger können andere Platz gewinnen und
die fixirten verdrängen. Denn es iſt unbedingtes
Naturgeſetz, daſs die diſtributiven Aeuſserungen
der Lebenskraft in dem Maaſse erlöſchen, als
ihre Wirkſamkeit an einem Ort hervorſtechend
angeſtrengt wird. Nun wirken aber die körperli-
chen Excitatoren gleichmäſsig, alſo auch auf die
ſchon zu empfindlichen Saiten; die beruhigen-
den Arzneien ſtimmen alles, auch die torpiden
Faſern, in gleichen Graden herunter. Man kann
allerdings den Raſenden durch Mohnſaft zur
Ruhe bringen, allein geſcheut iſt er deswegen
nicht, ſondern nur ein Narr anderer Art gewor-
den. Doch muſs man die Sthenie und Aſthenie
des Vegetationsſyſtems, welches auf das Ganze
einflieſst, nicht verwechſeln mit der eigenthüm-
lichen Energie, die das Gehirn, als ein ſchon
gebildeter Theil, unabhängig von demſelben, be-
ſitzt. Das Vegetationsſyſtem kann zwar zu
ſchwach ſeyn in Rückſicht der ganzen Oekono-
mie, aber doch zu ſtark auf Einen Theil wir-
ken, und denſelben mit Kraft überladen.
Eine andere Anſicht. Die plaſtiſche Natur
ſchafft das Gehirn als eine rohe Maſſe (tabula
raſa) aus einem thieriſchen Stoff, der auſser den
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Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 47. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/52>, abgerufen am 28.11.2024.
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