lauter fremden Objekten, die ihre Aufmerksam- keit anziehn. Sie fühlen sich ausser dem Schoosse ihrer Familie verlassener, hoffen nirgends eine Stütze ihres Eigensinns und ergeben sich williger allen Vorschriften in einem fremden Hause, wo strenger Gehorsam an der Tagesordnung ist. Narren, Blödsinnige und Rasende gehören ohne Ausnahme alle hinein; und nur selten mag es Melancholische geben, die durch Kummer ge- beugt sind, die Nachstellungen der Menschen fürchten, und noch soviel Besonnenheit haben, dass eine gewaltsame Trennung von ihrer Familie ihnen grössere Nachtheile verursachen, als das Irrenhaus ihnen Vortheile verschaffen kann.
Wenn daher unsere Irrenanstalten, wie es nicht bezweifelt werden kann, einer Verbesse- rung bedürfen; so ist es eben so gewiss, dass ihrer Reformation ein vollständiger Plan, nicht al- lein zur pharmaceutischen, sondern auch zur psy- chischen Kurmethode, zum Grunde gelegt werden müsse. Freilich fehlt es noch an einem vollkom- menen psychischen Kurplan. Allein wenn die Irrenanstalten auch nur nach dem jetzigen Maasse unserer Erkenntnisse zugeschnitten würden; so können sie doch schon alles übertreffen, was in der Art unter cultivirten Völkern gefunden wird. Welche Nation soll den Anfang machen? Jeder Patriot wünscht der seinigen diesen Ruhm.
Schade, dass wir so wenige treue Beschrei- bungen den Irrenhäuser haben. Sie könnten zur
lauter fremden Objekten, die ihre Aufmerkſam- keit anziehn. Sie fühlen ſich auſser dem Schooſse ihrer Familie verlaſſener, hoffen nirgends eine Stütze ihres Eigenſinns und ergeben ſich williger allen Vorſchriften in einem fremden Hauſe, wo ſtrenger Gehorſam an der Tagesordnung iſt. Narren, Blödſinnige und Raſende gehören ohne Ausnahme alle hinein; und nur ſelten mag es Melancholiſche geben, die durch Kummer ge- beugt ſind, die Nachſtellungen der Menſchen fürchten, und noch ſoviel Beſonnenheit haben, daſs eine gewaltſame Trennung von ihrer Familie ihnen gröſsere Nachtheile verurſachen, als das Irrenhaus ihnen Vortheile verſchaffen kann.
Wenn daher unſere Irrenanſtalten, wie es nicht bezweifelt werden kann, einer Verbeſſe- rung bedürfen; ſo iſt es eben ſo gewiſs, daſs ihrer Reformation ein vollſtändiger Plan, nicht al- lein zur pharmaceutiſchen, ſondern auch zur pſy- chiſchen Kurmethode, zum Grunde gelegt werden müſſe. Freilich fehlt es noch an einem vollkom- menen pſychiſchen Kurplan. Allein wenn die Irrenanſtalten auch nur nach dem jetzigen Maaſse unſerer Erkenntniſſe zugeſchnitten würden; ſo können ſie doch ſchon alles übertreffen, was in der Art unter cultivirten Völkern gefunden wird. Welche Nation ſoll den Anfang machen? Jeder Patriot wünſcht der ſeinigen dieſen Ruhm.
Schade, daſs wir ſo wenige treue Beſchrei- bungen den Irrenhäuſer haben. Sie könnten zur
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lauter fremden Objekten, die ihre Aufmerkſam-
keit anziehn. Sie fühlen ſich auſser dem Schooſse
ihrer Familie verlaſſener, hoffen nirgends eine
Stütze ihres Eigenſinns und ergeben ſich williger
allen Vorſchriften in einem fremden Hauſe, wo
ſtrenger Gehorſam an der Tagesordnung iſt.
Narren, Blödſinnige und Raſende gehören ohne
Ausnahme alle hinein; und nur ſelten mag es
Melancholiſche geben, die durch Kummer ge-
beugt ſind, die Nachſtellungen der Menſchen
fürchten, und noch ſoviel Beſonnenheit haben,
daſs eine gewaltſame Trennung von ihrer Familie
ihnen gröſsere Nachtheile verurſachen, als das
Irrenhaus ihnen Vortheile verſchaffen kann.
Wenn daher unſere Irrenanſtalten, wie es
nicht bezweifelt werden kann, einer Verbeſſe-
rung bedürfen; ſo iſt es eben ſo gewiſs, daſs
ihrer Reformation ein vollſtändiger Plan, nicht al-
lein zur pharmaceutiſchen, ſondern auch zur pſy-
chiſchen Kurmethode, zum Grunde gelegt werden
müſſe. Freilich fehlt es noch an einem vollkom-
menen pſychiſchen Kurplan. Allein wenn die
Irrenanſtalten auch nur nach dem jetzigen Maaſse
unſerer Erkenntniſſe zugeſchnitten würden; ſo
können ſie doch ſchon alles übertreffen, was in
der Art unter cultivirten Völkern gefunden wird.
Welche Nation ſoll den Anfang machen? Jeder
Patriot wünſcht der ſeinigen dieſen Ruhm.
Schade, daſs wir ſo wenige treue Beſchrei-
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Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 456. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/461>, abgerufen am 22.11.2024.
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