Den Sinnlosen, der keinen Eindruck beach- tet, greift man durchs Gemeingefühl, als den offensten Zugang zum Seelenorgan an, um ihn vorerst nur einigermassen zu fixiren. Die Zu- stände seines eignen Körpers liegen ihm am nächsten; er haftet am ersten auf Eindrücken, die Lust und Schmerz machen. Man reibt und kit- zelt den Kranken, bringt ihn unter die Traufe und Douche, impft ihm die Krätze ein, und er- regt ihm allerhand andere schmerzhafte Gefühle *). Man rührt die Sinnorgane durch Niessmittel, durch einzelne gellende Töne, durch grelle Far- ben, durch schaudernde Ansichten des Meeres, des Blitzes, anderer grosser Naturerscheinungen. Man reizt die Leidenschaften und besonders den Zorn des Kranken, vielleicht auch seine Furcht, durch anscheinend drohende Gefahren, um we- nigstens einige Action im Seelenorgan hervorzu- bringen. Doch dies mit Vorsicht.
Nun schreitet man zur Kultur der Aufmerk- samkeit fort. Der Blödsinnige haftet auf keinem Gegenstand, der Dumme ist nicht im Stande, seine Aufmerksamkeit auf mehrere Punkte mit gleicher Stärke zu vertheilen. Man wähle also theils Uebungen, die den Kranken an einen Gegen- stand heften, theils ihn leiten, mehrere sich folgende oder gleichzeitige Gegenstände zu be- achten. Die Uebungen, welche man dazu wählt, müssen durch ein natürliches oder künstliches
*) s. oben 188 S.
Den Sinnloſen, der keinen Eindruck beach- tet, greift man durchs Gemeingefühl, als den offenſten Zugang zum Seelenorgan an, um ihn vorerſt nur einigermaſsen zu fixiren. Die Zu- ſtände ſeines eignen Körpers liegen ihm am nächſten; er haftet am erſten auf Eindrücken, die Luſt und Schmerz machen. Man reibt und kit- zelt den Kranken, bringt ihn unter die Traufe und Douche, impft ihm die Krätze ein, und er- regt ihm allerhand andere ſchmerzhafte Gefühle *). Man rührt die Sinnorgane durch Nieſsmittel, durch einzelne gellende Töne, durch grelle Far- ben, durch ſchaudernde Anſichten des Meeres, des Blitzes, anderer groſser Naturerſcheinungen. Man reizt die Leidenſchaften und beſonders den Zorn des Kranken, vielleicht auch ſeine Furcht, durch anſcheinend drohende Gefahren, um we- nigſtens einige Action im Seelenorgan hervorzu- bringen. Doch dies mit Vorſicht.
Nun ſchreitet man zur Kultur der Aufmerk- ſamkeit fort. Der Blödſinnige haftet auf keinem Gegenſtand, der Dumme iſt nicht im Stande, ſeine Aufmerkſamkeit auf mehrere Punkte mit gleicher Stärke zu vertheilen. Man wähle alſo theils Uebungen, die den Kranken an einen Gegen- ſtand heften, theils ihn leiten, mehrere ſich folgende oder gleichzeitige Gegenſtände zu be- achten. Die Uebungen, welche man dazu wählt, müſſen durch ein natürliches oder künſtliches
*) ſ. oben 188 S.
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Den Sinnloſen, der keinen Eindruck beach-
tet, greift man durchs Gemeingefühl, als den
offenſten Zugang zum Seelenorgan an, um ihn
vorerſt nur einigermaſsen zu fixiren. Die Zu-
ſtände ſeines eignen Körpers liegen ihm am
nächſten; er haftet am erſten auf Eindrücken, die
Luſt und Schmerz machen. Man reibt und kit-
zelt den Kranken, bringt ihn unter die Traufe
und Douche, impft ihm die Krätze ein, und er-
regt ihm allerhand andere ſchmerzhafte Gefühle *).
Man rührt die Sinnorgane durch Nieſsmittel,
durch einzelne gellende Töne, durch grelle Far-
ben, durch ſchaudernde Anſichten des Meeres,
des Blitzes, anderer groſser Naturerſcheinungen.
Man reizt die Leidenſchaften und beſonders den
Zorn des Kranken, vielleicht auch ſeine Furcht,
durch anſcheinend drohende Gefahren, um we-
nigſtens einige Action im Seelenorgan hervorzu-
bringen. Doch dies mit Vorſicht.
Nun ſchreitet man zur Kultur der Aufmerk-
ſamkeit fort. Der Blödſinnige haftet auf keinem
Gegenſtand, der Dumme iſt nicht im Stande, ſeine
Aufmerkſamkeit auf mehrere Punkte mit gleicher
Stärke zu vertheilen. Man wähle alſo theils
Uebungen, die den Kranken an einen Gegen-
ſtand heften, theils ihn leiten, mehrere ſich
folgende oder gleichzeitige Gegenſtände zu be-
achten. Die Uebungen, welche man dazu wählt,
müſſen durch ein natürliches oder künſtliches
*) ſ. oben 188 S.
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Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 436. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/441>, abgerufen am 25.11.2024.
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