ihre Kräfte zu schnelle Flucht der Ideen statt fin- den. Dies schliesse ich aus den leeren Aufwal- lungen und der zwecklosen Geschäfftigkeit einiger Blödsinnigen. Ihr Gedächtniss ist mehr oder weni- ger schwach, dass sie heute nicht mehr wissen, was sie gestern thaten, ja gar ihre Frage vergessen, ehe sie die Antwort bekommen und daher deren Sinn nicht begreifen. Zuweilen warten sie auch die Antwort auf ihre Fragen nicht ab, sondern be- antworten sich dieselben selbst. Bey den Kretinen ist diese Gedächtnissschwäche ursprünglich.
Es fehlt am Gefühlsvermögen. Der ästhetischen und moralischen Gefühle will ich gar nicht einmal erwähnen; selbst die sinnlichen Ge- fühle find stumpf. Die vollkommenen Kretinen lassen sich betasten, selbst an Orten, deren Berüh- rung die Schaam verweigert, ohne eine Mine zu verziehn *). Blödsinnige vertragen grosse Gaben von Arzneien, Hunger und Frost, und die Fexe gar Nadelstiche, ohne Schmerzen zu äussern **). Einige derselben äussern nicht einmal ein Verlan- gen zu essen, wenn sie die Speisen nicht sehen; ja sie müssen ihnen gar in den Mund gesteckt wer- den, wenn ihre Käuwerkzeuge in eine mechani- sche Bewegung gesetzt werden sollen. Sie essen ohne Auswahl alles mit gleichem Appetit und mit solcher Trägheit, dass man sich unmöglich über- reden kann, sie stillten ihren Hunger mit Wohlge-
*)Wenzel l. c. 128 S.
**)Wenzel l. c. 129 S.
ihre Kräfte zu ſchnelle Flucht der Ideen ſtatt fin- den. Dies ſchlieſse ich aus den leeren Aufwal- lungen und der zweckloſen Geſchäfftigkeit einiger Blödſinnigen. Ihr Gedächtniſs iſt mehr oder weni- ger ſchwach, daſs ſie heute nicht mehr wiſſen, was ſie geſtern thaten, ja gar ihre Frage vergeſſen, ehe ſie die Antwort bekommen und daher deren Sinn nicht begreifen. Zuweilen warten ſie auch die Antwort auf ihre Fragen nicht ab, ſondern be- antworten ſich dieſelben ſelbſt. Bey den Kretinen iſt dieſe Gedächtniſsſchwäche urſprünglich.
Es fehlt am Gefühlsvermögen. Der äſthetiſchen und moraliſchen Gefühle will ich gar nicht einmal erwähnen; ſelbſt die ſinnlichen Ge- fühle find ſtumpf. Die vollkommenen Kretinen laſſen ſich betaſten, ſelbſt an Orten, deren Berüh- rung die Schaam verweigert, ohne eine Mine zu verziehn *). Blödſinnige vertragen groſse Gaben von Arzneien, Hunger und Froſt, und die Fexe gar Nadelſtiche, ohne Schmerzen zu äuſsern **). Einige derſelben äuſsern nicht einmal ein Verlan- gen zu eſſen, wenn ſie die Speiſen nicht ſehen; ja ſie müſſen ihnen gar in den Mund geſteckt wer- den, wenn ihre Käuwerkzeuge in eine mechani- ſche Bewegung geſetzt werden ſollen. Sie eſſen ohne Auswahl alles mit gleichem Appetit und mit ſolcher Trägheit, daſs man ſich unmöglich über- reden kann, ſie ſtillten ihren Hunger mit Wohlge-
*)Wenzel l. c. 128 S.
**)Wenzel l. c. 129 S.
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ihre Kräfte zu ſchnelle Flucht der Ideen ſtatt fin-
den. Dies ſchlieſse ich aus den leeren Aufwal-
lungen und der zweckloſen Geſchäfftigkeit einiger
Blödſinnigen. Ihr Gedächtniſs iſt mehr oder weni-
ger ſchwach, daſs ſie heute nicht mehr wiſſen, was
ſie geſtern thaten, ja gar ihre Frage vergeſſen,
ehe ſie die Antwort bekommen und daher deren
Sinn nicht begreifen. Zuweilen warten ſie auch
die Antwort auf ihre Fragen nicht ab, ſondern be-
antworten ſich dieſelben ſelbſt. Bey den Kretinen
iſt dieſe Gedächtniſsſchwäche urſprünglich.
Es fehlt am Gefühlsvermögen. Der
äſthetiſchen und moraliſchen Gefühle will ich gar
nicht einmal erwähnen; ſelbſt die ſinnlichen Ge-
fühle find ſtumpf. Die vollkommenen Kretinen
laſſen ſich betaſten, ſelbſt an Orten, deren Berüh-
rung die Schaam verweigert, ohne eine Mine zu
verziehn *). Blödſinnige vertragen groſse Gaben
von Arzneien, Hunger und Froſt, und die Fexe
gar Nadelſtiche, ohne Schmerzen zu äuſsern **).
Einige derſelben äuſsern nicht einmal ein Verlan-
gen zu eſſen, wenn ſie die Speiſen nicht ſehen;
ja ſie müſſen ihnen gar in den Mund geſteckt wer-
den, wenn ihre Käuwerkzeuge in eine mechani-
ſche Bewegung geſetzt werden ſollen. Sie eſſen
ohne Auswahl alles mit gleichem Appetit und mit
ſolcher Trägheit, daſs man ſich unmöglich über-
reden kann, ſie ſtillten ihren Hunger mit Wohlge-
*) Wenzel l. c. 128 S.
**) Wenzel l. c. 129 S.
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Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 408. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/413>, abgerufen am 25.11.2024.
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