zen, weiss aber nicht, dass er es sey, der sie fühlt; nicht er, sondern der Organismus wirkt ihnen convulsivisch entgegen. Die Kretinen, sagt Wenzel*), beissen sich zuweilen selbst und rupfen sich die Schaamhaare aus. Wahrschein- lich geschieht dies nicht ohne Schmerz, aber sie wissen nicht, dass ihre Handlung Ursache dessel- ben sey. Denn sie halten den Theil, welchen sie verletzen, nicht für einen Theil von sich.
Auch die Sinne, Imagination und das Gedächtniss blödsinniger Menschen sind ohne Kraft. Daher ihre Armuth an Ideen. Ihre stum- pfen Sinne nehmen wenige Eindrücke wahr, ihre unstätte Aufmerksamkeit hält sie nicht fest und ihr untreues Gedächtniss bewahrt sie nicht auf. Ohne Vorrath von Ideen ist die Imagination leer und die Seele gedankenloss. Wenigstens leiden einige Fexe an Schwäche und Mangel des Ge- ruchs, Gehörs und Gesichts **). Sie drehn und wenden ein unbedeutendes Spielwerk, das sie in den Händen halten, langsam hin und her und starren es unverrückt an, als wenn sie eine Klapperschlange anstarrten ***). Im Anfang der Krankheit und in ihren leichteren Graden mag dann und wann, wie bey den Narren, eine für
*) Ueber den Kretinismus, Wien 1802, 115 und 133 S.
**)Wenzel l. c. 72-77 und 138 S.
***)Wenzel l. c. 154 S.
zen, weiſs aber nicht, daſs er es ſey, der ſie fühlt; nicht er, ſondern der Organiſmus wirkt ihnen convulſiviſch entgegen. Die Kretinen, ſagt Wenzel*), beiſsen ſich zuweilen ſelbſt und rupfen ſich die Schaamhaare aus. Wahrſchein- lich geſchieht dies nicht ohne Schmerz, aber ſie wiſſen nicht, daſs ihre Handlung Urſache deſſel- ben ſey. Denn ſie halten den Theil, welchen ſie verletzen, nicht für einen Theil von ſich.
Auch die Sinne, Imagination und das Gedächtniſs blödſinniger Menſchen ſind ohne Kraft. Daher ihre Armuth an Ideen. Ihre ſtum- pfen Sinne nehmen wenige Eindrücke wahr, ihre unſtätte Aufmerkſamkeit hält ſie nicht feſt und ihr untreues Gedächtniſs bewahrt ſie nicht auf. Ohne Vorrath von Ideen iſt die Imagination leer und die Seele gedankenloſs. Wenigſtens leiden einige Fexe an Schwäche und Mangel des Ge- ruchs, Gehörs und Geſichts **). Sie drehn und wenden ein unbedeutendes Spielwerk, das ſie in den Händen halten, langſam hin und her und ſtarren es unverrückt an, als wenn ſie eine Klapperſchlange anſtarrten ***). Im Anfang der Krankheit und in ihren leichteren Graden mag dann und wann, wie bey den Narren, eine für
*) Ueber den Kretiniſmus, Wien 1802, 115 und 133 S.
**)Wenzel l. c. 72-77 und 138 S.
***)Wenzel l. c. 154 S.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0412"n="407"/>
zen, weiſs aber nicht, daſs er es ſey, der ſie<lb/>
fühlt; nicht er, ſondern der Organiſmus wirkt<lb/>
ihnen convulſiviſch entgegen. Die Kretinen, ſagt<lb/><hirendition="#g">Wenzel</hi><noteplace="foot"n="*)">Ueber den Kretiniſmus, Wien 1802, 115 und<lb/>
133 S.</note>, beiſsen ſich zuweilen ſelbſt und<lb/>
rupfen ſich die Schaamhaare aus. Wahrſchein-<lb/>
lich geſchieht dies nicht ohne Schmerz, aber ſie<lb/>
wiſſen nicht, daſs ihre Handlung Urſache deſſel-<lb/>
ben ſey. Denn ſie halten den Theil, welchen<lb/>ſie verletzen, nicht für einen Theil von ſich.</p><lb/><p>Auch die <hirendition="#g">Sinne, Imagination</hi> und das<lb/><hirendition="#g">Gedächtniſs</hi> blödſinniger Menſchen ſind ohne<lb/>
Kraft. Daher ihre Armuth an Ideen. Ihre ſtum-<lb/>
pfen Sinne nehmen wenige Eindrücke wahr, ihre<lb/>
unſtätte Aufmerkſamkeit hält ſie nicht feſt und<lb/>
ihr untreues Gedächtniſs bewahrt ſie nicht auf.<lb/>
Ohne Vorrath von Ideen iſt die Imagination leer<lb/>
und die Seele gedankenloſs. Wenigſtens leiden<lb/>
einige Fexe an Schwäche und Mangel des Ge-<lb/>
ruchs, Gehörs und Geſichts <noteplace="foot"n="**)"><hirendition="#g">Wenzel</hi> l. c. 72-77 und 138 S.</note>. Sie drehn<lb/>
und wenden ein unbedeutendes Spielwerk, das<lb/>ſie in den Händen halten, langſam hin und her<lb/>
und ſtarren es unverrückt an, als wenn ſie eine<lb/>
Klapperſchlange anſtarrten <noteplace="foot"n="***)"><hirendition="#g">Wenzel</hi> l. c. 154 S.</note>. Im Anfang der<lb/>
Krankheit und in ihren leichteren Graden mag<lb/>
dann und wann, wie bey den Narren, eine für<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[407/0412]
zen, weiſs aber nicht, daſs er es ſey, der ſie
fühlt; nicht er, ſondern der Organiſmus wirkt
ihnen convulſiviſch entgegen. Die Kretinen, ſagt
Wenzel *), beiſsen ſich zuweilen ſelbſt und
rupfen ſich die Schaamhaare aus. Wahrſchein-
lich geſchieht dies nicht ohne Schmerz, aber ſie
wiſſen nicht, daſs ihre Handlung Urſache deſſel-
ben ſey. Denn ſie halten den Theil, welchen
ſie verletzen, nicht für einen Theil von ſich.
Auch die Sinne, Imagination und das
Gedächtniſs blödſinniger Menſchen ſind ohne
Kraft. Daher ihre Armuth an Ideen. Ihre ſtum-
pfen Sinne nehmen wenige Eindrücke wahr, ihre
unſtätte Aufmerkſamkeit hält ſie nicht feſt und
ihr untreues Gedächtniſs bewahrt ſie nicht auf.
Ohne Vorrath von Ideen iſt die Imagination leer
und die Seele gedankenloſs. Wenigſtens leiden
einige Fexe an Schwäche und Mangel des Ge-
ruchs, Gehörs und Geſichts **). Sie drehn
und wenden ein unbedeutendes Spielwerk, das
ſie in den Händen halten, langſam hin und her
und ſtarren es unverrückt an, als wenn ſie eine
Klapperſchlange anſtarrten ***). Im Anfang der
Krankheit und in ihren leichteren Graden mag
dann und wann, wie bey den Narren, eine für
*) Ueber den Kretiniſmus, Wien 1802, 115 und
133 S.
**) Wenzel l. c. 72-77 und 138 S.
***) Wenzel l. c. 154 S.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 407. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/412>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.