Verarbeitung vorstrecken. Der gemeine Mann urtheilt zwar falsch über den Lauf der Gestirne, aber ohne Blödsinn. Denn sein Verstand hat kei- nen Antheil an diesem Irrthum. Wir sehn daher, wenn wir ein Subject in Beziehung auf Blödsinn prüfen wollen, nicht sowohl darauf, ob es Be- griffe, sondern ob es deutliche und allgemeine Begriffe habe, ob es ihm an dem allergemeinsten Stoff zum Urtheilen fehle, den wir bey jedem gesunden Menschenverstand als vorräthig voraus- setzen dürfen. Wir sehn nicht sowohl auf die Normalität des Stoffs, sondern vielmehr auf die Normalität des Verstandes in dem Gebrauch dessel- ben; nicht sowohl auf die Materie, als auf die Form der Schlüsse. Dann müssen die Mate- rialien, an welchen das Vermögen der Urtheils- kraft zu ihrer Bearbeitung geprüft werden soll, nicht sowohl aus der Vernunft, als vielmehr aus dem Gebiete der Erfahrung hergenommen wer- den. Die Wahrheit der Vernunfterkenntnisse muss jedermann zugeben, der ihren Sinn gefasst hat. Er kann zu schwach seyn, denselben zu fassen, allein irren kann er sich nicht im Betreff ihrer und das Gegentheil behaupten. Bey weitem der grösste Theil unserer Erkenntnisse beruht auf Wahrscheinlichkeit. Ihr Gegentheil ist mög- lich, hat gar auch Gründe für sich. Die Prämis- sen unserer Folgesätze sind zum Theil oder insge- sammt nicht gewiss, oder die Conclusionen fol- gen nicht aus ihnen. Hier kömmt es vorzüglich
Verarbeitung vorſtrecken. Der gemeine Mann urtheilt zwar falſch über den Lauf der Geſtirne, aber ohne Blödſinn. Denn ſein Verſtand hat kei- nen Antheil an dieſem Irrthum. Wir ſehn daher, wenn wir ein Subject in Beziehung auf Blödſinn prüfen wollen, nicht ſowohl darauf, ob es Be- griffe, ſondern ob es deutliche und allgemeine Begriffe habe, ob es ihm an dem allergemeinſten Stoff zum Urtheilen fehle, den wir bey jedem geſunden Menſchenverſtand als vorräthig voraus- ſetzen dürfen. Wir ſehn nicht ſowohl auf die Normalität des Stoffs, ſondern vielmehr auf die Normalität des Verſtandes in dem Gebrauch deſſel- ben; nicht ſowohl auf die Materie, als auf die Form der Schlüſſe. Dann müſſen die Mate- rialien, an welchen das Vermögen der Urtheils- kraft zu ihrer Bearbeitung geprüft werden ſoll, nicht ſowohl aus der Vernunft, als vielmehr aus dem Gebiete der Erfahrung hergenommen wer- den. Die Wahrheit der Vernunfterkenntniſſe muſs jedermann zugeben, der ihren Sinn gefaſst hat. Er kann zu ſchwach ſeyn, denſelben zu faſſen, allein irren kann er ſich nicht im Betreff ihrer und das Gegentheil behaupten. Bey weitem der gröſste Theil unſerer Erkenntniſſe beruht auf Wahrſcheinlichkeit. Ihr Gegentheil iſt mög- lich, hat gar auch Gründe für ſich. Die Prämiſ- ſen unſerer Folgeſätze ſind zum Theil oder insge- ſammt nicht gewiſs, oder die Concluſionen fol- gen nicht aus ihnen. Hier kömmt es vorzüglich
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Verarbeitung vorſtrecken. Der gemeine Mann
urtheilt zwar falſch über den Lauf der Geſtirne,
aber ohne Blödſinn. Denn ſein Verſtand hat kei-
nen Antheil an dieſem Irrthum. Wir ſehn daher,
wenn wir ein Subject in Beziehung auf Blödſinn
prüfen wollen, nicht ſowohl darauf, ob es Be-
griffe, ſondern ob es deutliche und allgemeine
Begriffe habe, ob es ihm an dem allergemeinſten
Stoff zum Urtheilen fehle, den wir bey jedem
geſunden Menſchenverſtand als vorräthig voraus-
ſetzen dürfen. Wir ſehn nicht ſowohl auf die
Normalität des Stoffs, ſondern vielmehr auf die
Normalität des Verſtandes in dem Gebrauch deſſel-
ben; nicht ſowohl auf die Materie, als auf die
Form der Schlüſſe. Dann müſſen die Mate-
rialien, an welchen das Vermögen der Urtheils-
kraft zu ihrer Bearbeitung geprüft werden ſoll,
nicht ſowohl aus der Vernunft, als vielmehr aus
dem Gebiete der Erfahrung hergenommen wer-
den. Die Wahrheit der Vernunfterkenntniſſe
muſs jedermann zugeben, der ihren Sinn gefaſst
hat. Er kann zu ſchwach ſeyn, denſelben zu
faſſen, allein irren kann er ſich nicht im Betreff
ihrer und das Gegentheil behaupten. Bey weitem
der gröſste Theil unſerer Erkenntniſſe beruht
auf Wahrſcheinlichkeit. Ihr Gegentheil iſt mög-
lich, hat gar auch Gründe für ſich. Die Prämiſ-
ſen unſerer Folgeſätze ſind zum Theil oder insge-
ſammt nicht gewiſs, oder die Concluſionen fol-
gen nicht aus ihnen. Hier kömmt es vorzüglich
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Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 404. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/409>, abgerufen am 22.11.2024.
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